Um es gleich vorwegzuschicken: ich bin nicht unparteiisch in dieser Rezension. Ich habe mich jetzt wochenlang auf die Bücher gefreut, die nun unter dem Weihnachtsbaum lagen. Aber: ich habe keinen Anlass anzunehmen, dass ich anders über die VILM-Trilogie denken würde, wenn ich durch Zufall auf sie gestoßen wäre.
Was ist passiert? Nun ja – so ganz genau kann man das gar nicht sagen. Das Buch, dass sich aus einzelnen, nur lose verknüpften Episoden zusammensetzt, lässt den Grund für den Absturz des Kolonistenschiffes Vilm van der Oosterbrijk etwas im Nebel versinken. Das Schiff – acht Kilometer im Durchmesser – schlägt mehr schlecht als recht und in vielen riesigen Einzelteilen auf dem Planeten auf, der kurz darauf in Ermangelung einer Alternative von seinen neuen Bewohnern nur noch Vilm genannt wird. Sein bestechendstes Merkmal: Es regnet beinahe ohne Unterlass.
Und während die rund 400 Überlebenden versuchen, wie einst Robinson Crusoe, aus dem Wrack unter Lebensgefahr das Nötigste zum Überleben – oder überhaupt irgendwas brauchbares – herauszuholen, besiedeln sie in drei Dörfern aus Schutt und Zeltbahnen das Matschland in der Nähe des Absturzgebirges. Das Areal zwischen den „Gestrolchen“, den Dickichten voller unbekannter, wilder Tiere und ekelerregender Aasfresser – wird für die Kinder der Siedler bald zur neuen Heimat.
Überhaupt sind die Figuren – neben der sehr kreativen, lebendigen Umweltskizze, die Karsten Kruschel liefert – das Salz in der Suppe des Buches: Da ist etwa die einarmige Zentralierin Eliza. Ursprünglich zu den Privilegierten an Bord gezählt, wird sie nach dem Absturz von den Überlebenden mit Verachtung gestraft, gar verantwortlich gemacht für den Crash. Erst langsam taut das Verhältnis zur Gemeinschaft auf, dass sie schließlich zur Lehrerin der Vilmkinder macht. Mechin, der einzige überlebende Arzt der Katastrophe, kämpft gegen die Realität auf der fremden Welt: mit exotischen Krankheiten, ohne ausreichende Medikamente. Er ist es auch, der in der intensivsten Episode des Buches in einen unglaublichen Konflikt mit dem Schicksal, sich selbst und seinem vierjährigen Patienten Will gerät.
Die Erzählkunst von Karsten Kruschel erreicht hier ihren absoluten Höhepunkt. Der kleine Patient wird uns auch weiter begleiten: Will ist eines der Vilmkinder, die nach dem Durchstehen der seltsamen Krankheit mit den Eingesichtern, einer hundeähnlichen, sechsbeinigen, telepatisch begabten Tierart des Planeten, eine seltsame Symbiose eingehen (fast schon wie die Beziehung zu den Dämonen aus Philip Pullmanns Der goldene Kompass). Dazu kommen Tina, die Anführerin der überlebenden Serafim-Siedler, Marek, der junge Techniker, Schwester Gerda.
Aber auch die Erinnerung an Lafayette holt die Story immer wieder ein, genau wie die beiden getöteten Karnesen Claudius und Jonathan. Jede Figur für sich könnte einen ganzen Kosmos füllen – und ich wette, dass Karsten Kruschel noch einige Ideen auf Lager hat, genau das zu tun.
Fazit
Nach der Lektüre von Becky Chambers Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten wollte ich eigentlich vorsichtig sein mit Superlativen – aber Karsten Kruschel macht mir das nicht leicht. Deswegen will ich es mal so einordnen: Vilm – Der Regenplanet ist das beste originär deutschsprachige Buch, dass ich in diesem Jahr gelesen habe. Und es braucht absolut nicht den Vergleich zu internationaler Literatur zu scheuen. Das Werk hat absolut verdient 2010 den Deutschen Science Fiction Preis bekommen – und auch die dazugehörige Laudation ist sehr lesenswert.
Alle Tricktechnik, die das heutige Kino bieten kann, hat es schwer, gegen einen Schriftsteller zu bestehen, dem es mit seiner Sprache gelingt, vor dem geistigen Auge seiner Leser eine dreidimensionale Welt aufleuchten zu lassen, mit Bewohnern, die einen nicht gleichgültig lassen. Aus der Laudatio zur Preisverleihung des Deutschen Science Fiction Preises 2010
Über das Buch Vilm – Der Regenplanet
Auf 219 Seiten nimmt uns Karsten Kruschel unter den Fittichen des Wurdack-Verlages in Nittendorf mit auf den Regenplaneten. Das Buch ist dort 2009 unter der ISBN 978-3-938065-36-5 erschienen. Auf der Webseite des Verlages gibt es auch eine Leseprobe als PDF.
Wer keine Lust zum Lesen hat, kann hier das Hörbuch bekommen.
Die Geschichte des Buches ist fast ebenso spannend wie das Buch an sich. Die ersten Ideen dazu reichen zurück in die 1980er Jahre. Bereits in Das kleinere Weltall begegnet uns das Suchkommando für die Vilm van der Oosterbrijk. Es gibt aber noch ältere Kapitel des Buches, dass zur Wendezeit schon einen Verlagsvertrag hatte – und dann doch nicht erschien. Jahrelang lag diese wunderschöne Geschichte brach, bevor der Wurdack-Verlag darauf aufmerksam wurde und 2009 extrem überarbeitet und zweiteilig als „Der Regenplanet“ und „Die Eingeborenen“ erschien. Aus den Reaktionen auf die beiden Bände entstand dann im Anschluss noch der dritte Band „Das Dickicht“. Genau nachlesen kann man die Geschichte des Buches beim Autor selbst.
Klappentext
Eigentlich hatten sich die Siedler an Bord der VILM VAN DER OOSTERBRIJK das ganz anders vorgestellt. Doch anstatt sie wohlbehalten zu einer entfernten Kolonialwelt zu bringen, war der Weltenkreuzer auf einen namenlosen Planeten gekracht, auf dem es nur eines im Überfluss zu geben schien: Regen. Die wenigen Überlebenden improvisieren zwischen Schrott und Schlamm eine Zivilisation, der nicht nur Kaffee fehlt.
Der Regenplanet scheint nur auf sie gewartet zu haben – allerdings nicht, um sich erobern zu lassen.
Über den Autor
Karsten Kruschel wurde 1959 in Havelberg geboren. Er brach ein Studium der Pflanzenproduktion in Halle ab, war kurzzeitig pflegerische Hilfskraft in einer Nervenklinik in Magdeburg und studierte 1980-1984 Pädagogik an der PH dieser Stadt. Anschließend unterrichtete er in Leipzig-Grünau in Deutsch und Geschichte und absolvierte seinen Ehrendienst in der NVA; seit 1987 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der PH Leipzig.
So stand es 1989 noch im Klappentext zu Das kleinere Weltall. Mittlerweile ist ein Doktortitel hinzugekommen – Karsten Kruschel promovierte über die Science-Fiction-Literatur in der DDR.
Karsten Kruschel hat zwei Mal den Deutschen Science Fiction Preis und 2016 den Kurd-Laßwitz-Preis gewonnen.
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