In Karsten Kruschels Das kleinere Weltall versammelt der Historiker und Germanist sechs Kurzgeschichten, die alle im gleichen Universum spielen. In den letzten Tagen der alten DDR kam das handliche Büchlein heraus. Zwei Vorbemerkungen schickt er voran: Ein Zitat von Marcel Proust – und ein Zitat des geheimnisvollen Vilm van der Oosterbrijk – der uns im Zusammenhang mit Karsten Kruschel noch ein paar mal begegnen wird.
Der Brunnen
Zum Auftakt gibt es eine enorm surreale Story um den Piloten Tasso, der mit seinem Raumschiff aus ungeklärten Umständen an einem seltsamen Ort landet. Automatisch in einen medizinisch überwachten Tiefschlaf gelegt kann er sich nicht erklären, wie er gelandet ist – und bei der Untersuchung seiner näheren Umgebung stösst er auf eine zylinderförmige Welt mit zahlreichen Ebenen – und trifft hier sogar Überlebende einer Mission, die vor vierhundert Jahren gestrandet ist.
Viele Jahre später wird die Erzählung überarbeitet und gekürzt als 19. Kapitel in Galdäa wieder auftauchen.
Großartige Party, wirklich großartig
Die zweite Story im kleineren Weltall liest sich wie das Telefonat zwischen Captain Mandrake und General Jack D. Ripper in „Dr. Strangelove“. Dazu noch ein eine Prise Erotik – und perfekt ist eine kurzweilige Geschichte zwischen der Millionen-Metropole Kranon-City und dem Planetenfort.
Die Schuld
Schon der zweite Hinweis auf die Beatles in der DDR-Science-Fiction, der mir in wenigen Wochen unterkommt. Ähnlich wie in Frank Töppes Regen auf Tyche kommt hier mit „Fool on the Hill“ ein Song der vier Jungs aus Liverpool vor – und umrahmt die Geschichte eines unglücklichen, ungeliebten Jungen, der so sehr aus seiner Welt auf der kleinen Raumkolonie ausbrechen möchte, dass er die Rollen mit einem Sträfling tauscht, dessen Verbannungstransport einen ungeplanten Halt auf dem Planeten einlegt.
Die beiden externen Freunde des Jungen, Mechin und Onkel Albert, könnte man dabei fast sogar in der Rolle des „Nichtrauchers“ von Erich Kästner sehen.
Glücklicher Lotse
Der wahrscheinlich erste Auftritt des Raumschiffs Oosterbrijk kommt in dieser Geschichte vor. Der Raumlotse Christoff, um den sich die Kapitäne der großen Schiffe reißen, hat ein beinahe legendäres Glück – aber zu einem großen Preis. Was fast nach einer Faustschen Tragödie klingt, bringt eine Suchaktion nach dem verschollenen Raumschiff in Gange, um die Überlebenden zu suchen – die später in dem Buch „Vilm – Der Regenplanet“ wieder auftauchen.
Auch dieser Text wird viele Jahre später „recycled“ – und steht überarbeitet als das erste Kapitel von Vilm – Die Eingeborenen.
Der Galdäische Krieg
Auch diese Geschichte Karsten Kruschels findet später einen Widerhall – im Buch „Galdäa. Der ungeschlagene Krieg“ nämlich. Ein junger Student – der Bruder von Tasso aus der ersten Geschichte des Buches (Der Brunnen) – untersucht die Ursachen für einen Krieg zwischen der irdischen Menschheit und den Bewohnern des Planeten Galdäa. Und die sonst allgemein übliche Erzählperspektive von den weit entwickelten Außerirdischen, die der Menschheit in ihrer Entwicklung assistieren, wird hier herumgedreht. Die Menschen „helfen“ den Galdäern. Und durch Bürokratie, systemische und menschliche Fehlleistungen geht das ganz ordentlich nach hinten los. Ein wenig erinnert das an zahllose Jahrzehnte Entwicklungshilfe in Afrika und im Nahen Osten – und ihren Effekt, den sie bis heute dort hinterlassen haben.
Die Garnison
Auf einem kleinen Planeten eines Doppelsystems kommt ein junger Praktikant der Flotte einem physikalischen Geheimnis auf die Spur. Bei der Untersuchung wird schnell klar, dass er nichts geringeres als eine fundamentale Anomalie in der Zusammensetzung des Universums entdeckt hat.
Neben den offensichtlichen Einblicken in (Kruschels?) Militärerfahrungen setzt sich der Text vor allem mit dem Problem der Loyalität auseinander: Loyalität zwischen Vater und Sohn, zwischen den Kameraden vor Ort, dem Vorgesetzten – aber auch zur Geliebten. Interessantes Feature: die Geschichte wird nahezu nahtlos aus den Briefen den Protagonisten erzählt.
Fazit
Auf dem Weg zu meinem Weihnachtsgeschenk (den Vilm-Bänden) bin ich zufällig über dieses frühe Werk von Karsten Kruschel gestossen. Der ist natürlich eine Hausnummer in der DDR-Phantastik – auch, wenn er einer der Jüngsten unter den Autoren der untergegangenen Zeit ist. Schreiben hat er drauf – es ist spannend, es ist kreativ. Da freue ich mich jetzt gleich noch mehr auf den ersten Vilm-Band.
Über das Buch „Das kleinere Weltall“
Unter der ISBN 3-360-00245-8 ist Das kleinere Weltall im Verlag Das Neue Berlin im Jahr 1989 erschienen. Auf 309 Seiten tobt sich Karsten Kruschel hier aus. Die Illustrationen steuert Dieter Heidenreich bei. Wolfgang Kucher hat das Büchlein auf seinem Blog besprochen.
Klappentext
Das kleinere Weltall ist jener von Menschen besiedelte oder zumindest von ihren Forschungsschiffen durchmessene Teil des Kosmos, in dem die sechs durch Hintergrund und Personen lose verknüpften Erzählungen dieses Bandes spielen. In ein künstliches Miniatur-Universum, auch ein kleineres Weltall mit eigenen, rätselhaften Gesetzen und Zwecken, gerät der Held in einer der Geschichten, während in einer anderen sein Bruder herausfindet, warum die als Helfer auf einen fernen Planeten gekommenen Menschen dort in einen tragischen Konflikt verwickelt werden.
So farbig und detailreich der Autor fremde Welten und irdische Raumstützpunkte zu schildern versteht, seine Helden unterscheiden sich von Menschen der Gegenwart nur durch ihre mächtigere Technik; ihre Probleme aber wurzeln weniger im riesigen Kosmos voller Sterne und Planeten als in dem „kleineren Weltall, das jeder im Kopf mit sich trägt“.
Über den Autor
Karsten Kruschel wurde 1959 in Havelberg geboren. Er brach ein Studium der Pflanzenproduktion in Halle ab, war kurzzeitig pflegerische Hilfskraft in einer Nervenklinik in Magdeburg und studierte 1980-1984 Pädagogik an der PH dieser Stadt. Anschließend unterrichtete er in Leipzig-Grünau in Deutsch und Geschichte und absolvierte seinen Ehrendienst in der NVA; seit 1987 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der PH Leipzig.
So stand es 1989 noch in seinem Klappentext. Mittlerweile ist ein Doktortitel hinzugekommen – Karsten Kruschel promovierte über die Science-Fiction-Literatur in der DDR.
Karsten Kruschel hat zwei Mal den Deutschen Science Fiction Preis und 2016 den Kurd-Laßwitz-Preis gewonnen.
Hallo,
ein sehr treffend geschriebener Artikel zu Karsten Kruschels Buch (http://die-kuchers.at/wp_dt/das-universum-in-unserem-kopf/), dem ich mich anschließen kann. Zur Lektüre der Storys kam ich auf ähnlichen Umwegen, nahe am Planeten Vilm vorbei – übrigens eine ebenfalls sehr empfehlenswerte Geschichte – inkl. ihrer Trabanten. (http://die-kuchers.at/wp_dt/regen-regen-regen/).
Ich wollte mich überdies für die vielen gut recherchierten und kurzweilig geschriebenen Beiträge des phantastischen Bücherschrankes in diesem Jahr bedanken.
Wünsche ein Frohes Fest und ein ebenso produktives, lesenswertes Jahr 2018
Wolfgang
Vielen Dank für das Kompliment! Nicht zuletzt hat mich dein Blog einige Male inspiriert, mal über den Tellerrand unserer Welt zu schauen.
Ich wünsche kuschlige Feiertage und einen guten Rutsch ins neue Jahr!
Hallo, Alexander,
eine Besprechung zu einem so alten Buch – und dann auch noch eine schöne. Vielen Dank dafür.
Für mich auch eine Zeitreise, denn beispielsweise das Proust-Zitat hatte ich vollkommen vergessen. Und ja, “Die Garnison” habe ich während meiner Armeezeit in der NVA geschrieben. 😉
Die “Großartige Party” geht nicht auf Dr. Strangelove zurück (obwohl dieser Gedanke auch was für sich hat), sondern auf eine Erzählung von Ludwig Achim von Armin.
Ich freue mich jetzt schon darauf, was du wohl nach der Lektüre der Vilm-Bücher schreibst.
Beste Grüße,
KK
Hallo Karsten!
Wow, damit hätte ich ja nicht gerechnet, dass der Autor selbst auf meinem kleinen Blog vorbeischaut – und sogar noch liest! Ich freue mich jetzt schon auf die Trilogie – und dann natürlich auch auf die “Galdäer” und das “Universum nach Landau”! Wenn ich damit durch bin, würde ich gern mit dir ein kleines Interview führen. Hast du denn zur Zeit etwas Neues in der Pipeline? Ich würde mich freuen, wenn wir da auch für meinen Brötchengeber, die Mitteldeutsche Zeitung, etwas machen könnten.
Hallo, Alexander,
natürlich können wir ein Interview machen oder etwas in der MZ (dort hatte Steffen Könau 2010 einen Artikel gemacht). Meine email-Adresse ist ja nun bekannt.
Etwas Neues in der Pipeline habe ich immer, derzeit den Roman “Shazim. Der verborgene Plan”, der wieder in der Welt von Vilm und Galdäa spielt, aber in einer anderen Ecke. Auch wenn mitunter die Säge klemmt, das Ding soll 2018 noch erscheinen.
Grüße,
Karsten