Ganz schmal ist der Grad zwischen Fantasy und Science Fiction in Ursula K. LeGuins erstem SF-Roman „Rocannons Welt“. Im Jahre 1966 erschienen ist er quasi die Geburtsstunde des Hainish-Zyklus – und bis heute ein wunderschönes, tieftrauriges Märchen in Raum und Zeit.
Der Ethnologe Gaverel Rocannon erforscht im Auftrag der Liga – einem Zusammenschluss intelligenter, entwickelter und raumfahrender Welten (und der in späteren Werken als „Ökumene“ bezeichnet wird) – die Lebensformen auf neu entdeckten Planeten. Sein Urteil über die Intelligenz der dort gefundenen Lebewesen entscheidet darüber, ob und wie die Liga mit diesen Welten in Kontakt tritt.
Als wir ihn kennenlernen, lebt er auf Fomalhaut II: einem Planeten, dessen Leben in einer Art Mittelalter stehengeblieben ist. LeGuins wunderbares Erzähltalent zeichnet uns eine traumhafte Welt voller Burgen und fliegender Raubkatzen, auf denen Krieger reiten und in ihren Abenteuern Juwelen gewinnen, mit denen sich ihre zauberhaften Gattinnen schmücken.
Auffallend ist, dass sich die beiden vorherrschenden Arten auf Fomalhaut II in einem Dualismus entwickelt haben. Zu den menschenähnlichen Jägern und Rittern im Süden gibt es ein Pendant im Norden. Die Gdemiar sind wiederum eine zwergenähnliche Rasse von Höhlenbewohnern, denen die Fiia gegenüberstehen: sie siedeln in sonnigen Tälern, bewahren sich nur Erinnerungen an Gutes und Schönes.
Als nun von außen Angehörige der Liga erstmals Kontakt zu Fomalhaut II aufnehmen, schätzen diese die Höhlenbewohner als dominante Art des Planeten ein, hinterlassen ihnen ein automatisch gesteuertes Schiff und genügend Technik und Bildung, um eine Art Industriekultur hervorzubringen – im Hinterkopf den sich anbahnenden Krieg mit Rebellen, bei dem jedes bißchen Produktion hilft. Man merkt, dass Star Trek parallel zum Erscheinen von Rocannons Welt auf die Bildschirme kam: 1966 gab es eben noch keine flächendeckende Sternenflotten-Direktive in der SF-Welt. 😉
Als Rocannons Forschungsschiff gesprengt wird, zerstören die Rebellen damit auch die einzige Ansibel-Verbindung zur Liga (Echtzeit-Kommunikation, die nichtrelativistische Effekte nutzt). Die nächste Liga-Welt Südgeorgien ist acht Lichtjahre entfernt. Und alle Probleme der nicht-relativistischen Reise oder Kommunikation dorthin hat der Leser schon im Vorspann kennengelernt, als die Burgherrin Semley einen blauen Kristall, Erbstück ihrer Familie, aus dem Museum der Liga zurückholt und dabei mit dem automatischen Schiff durch die endlose Nacht reist – und sechzehn Jahre später zurück in ihre alte Heimat kommt. Der Prolog war zwei Jahre zuvor als Kurzgeschichte mit dem Titel „Die Mitgift der Angyar“ (OT: „The Dowry of the Angyar“) erschienen.
Zurück zu Rocannon: der Forscher macht sich auf, in der Basis der Rebellen am anderen Ende der Welt ein Ansible zu finden, um die Liga zu informieren. Der Großteil des Planeten ist unerforscht. Mit den fliegenden Großkatzen und dem Enkel Semleys beginnt das Abenteuer, dass die Vertrauten über das Meer, nackt ins offene Feuer, zu riesigen Engeln mit Insektenhirnen, die ihre Beute aussaugen und in großen Städten leben und über ein grausames Gebirge bis zur Rebellenbasis führt.
Ob Rocannons Plan gelingt, und was die gewonnen Gabe der Telepathie dabei für eine Rolle spielt, erfährt der Leser erst auf den letzten Seiten. Spannend bleibt es bis dahin auf jeden Fall.
Interessant jedenfalls ist der doppelte literarische Perspektivwechsel des Romans auf jeden Fall: Im Prolog tritt Rocannon nur als Blitzlicht in die Geschichte von Semley. Im eigentlichen Hauptwerk wiederum wird Semley zu einer blitzlichtartigen Nebenfigur. Semley geht auf eine tragische Reise, die am Ende – obwohl sie ihr Ziel erreicht – sinnlos wird. Ob Rocannon das gleiche Schicksal teilt?
Fazit
Rocannons Welt ist ein wunderschönes, buntes Märchen, dass stringent erzählt wird. Ursula K. Le Guin bietet neben ihrer tollen Erzählweise überraschende Perspektiven auf einen Plot, der bei anderen Autoren wohl eher zum Weltraum-Western mutiert wäre.
Über das Buch Rocannons Welt
1966 erschien das amerikanische Original unter dem Titel „Rocannon’s World“ bei Ace Books. 1978 schnappte sich Heyne unter der Regie von Herbert Franke und Wolfgang Jeschke die Vorlage, ließ sie von Birgit Reß-Bohusch übersetzen und von Paul Lehr illustriert als Paperback auf den deutschen Markt bringen. Unter der ISBN 4-453-30473-X und der Heyne-Buchnummer 3578 wird man im Archiv nach ihr stöbern können. Die 124 Seiten starke Ausgabe kostete ursprünglich 3,80 D-Mark.
Klappentext
Rocannon, ein Naturforscher von der Erde, ist der einzige Überlebende einer Expeditionsgruppe, die den interessanten Planeten Fomalhaut II erforschen sollte. Die Welt, die von drei verschiedenen intelligenten Rassen bewohnt wird, dient Rebellen, welche die Macht der Sternenliga brechen wollen, als Stützpunkt. Mit Repressalien und brutalen Feuerüberfällen auf wehrlose Dörfer schüchtern sie die Ureinwohner ein und zwingen sie rücksichtslos zu Abgaben. Diese sind ihnen in ihrer Friedfertigkeit hilflos ausgeliefert.
Als das Forschungsschiff von der Erde auftaucht, zerstören die Rebellen das Raumfahrzeug und töten die Expeditionsteilnehmer. Nur Rocannon überlebt den Überfall. Unbewaffnet und ganz auf sich gestellt, faßt er den Entschluß, die eingeborenen Rassen von ihren Unterdrückern zu befreien, und er zieht aus, um den geheimen Schlupfwinkel der Rebellen aufzustöbern.
Über die Autorin
Der Name von Ursula K. LeGuin wird vor allem mit zwei literarischen Zyklen verknüpft bleiben: Die Erdsee-Saga, die wegweisend im Genre der Fantasy wurde – und das Hainish-Universum. Ihr Geburtsname Kroeber begleitet die Autorin als „K.“ in ihrem Namen (die Familie ihres Vaters stammte aus Kröbern in Thüringen). Ursula wird am 21. Oktober 1929 in Berkeley, Kalifornien geboren und wächst in einem akademischen Elternhaus auf. Ihre Eltern sind Anthropologen.
Sie studierte an der Ostküste der USA Literatur, vertiefte sich in die Geschichte der französischen und italienischen Renaissance und lernt in Frankreich 1953 ihren späteren Ehemann Charles A. Le Guin. Zusammen haben die beiden drei Kinder.
Seit 1962 schrieb sie Science Fiction, 1966 erscheint ihr erster Roman Rocannons Welt. In der Zeit bis 1974 erscheinen die meisten ihrer Fantasy- und SF-Romane – was sie zu einer Pionierin der amerikanischen SF macht (und damit zu einer Wegbereiterin der von mir sehr geschätzten Becky Chambers). Bis zu ihrem Tod im januar 2018 lebte Ursula K. LeGuin in Portland, Oregon. Einblick in ihre Gedanken liefert ein sehr schöner Dokumentarfilm – der auch einige Szenen am berühmten Cannon Beach in Oregon enthält, im Hintergrund der Haystack Rock – den ich schon seit meiner Kindheit im Richard-Donner-Film „The Goonies“ liebe. Hier ist der Trailer:
Im Januar 2018 starb Le Guin im Alter von 88 Jahren in ihrem Heim in Portland. Heinrich Stöllner widmete ihr im Zauberspiegel-Online einen gefühl- und respektvollen lesenswerten Nachruf.
Hier im Phantastischen Bücherschrank habe ich von Ursula K. LeGuin folgende Werke unter die Lupe genommen:
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