Zehn Geschichten, ein Universum. Die Welt von Mittag 22. Jahrhundert, in der die Gebrüder Strugazki ihre Helden auftreten lassen, ist die Welt, wie sich die beiden russischen Brüder eine (kommunistische) Zukunft und den Weg dorthin bis ins 22. Jahrhundert vorstellen. Nein, keine Welt des „real existierenden Sozialismus“ – echter gesellschaftlicher Fortschritt, in dem der Erkenntnisgewinn der Menschheit höchstes Gut geworden ist. Aber ich greife dem Fazit schon vor – deswegen von vorn:
Nacht auf dem Mars
Es wird Abend auf dem Mars. Zwei Ärzte sind auf dem Weg zur ersten Entbindung auf dem benachbarten, gerade kolonisierten Planeten. Ihr Fahrzeug versinkt in einer Wasserspalte. Auf dem Fußmarsch zu ihrer Patientin treffen die beiden auf zwei Pseudo-Soldaten, die sich dem Duo anschließen, um mit ihren Waffen Schutz vor einem namenlosen Grauen zu bieten. Exotisch an dem tatsächlich namenlosen Vieh: dass es immer von rechts angreift.
Der Mensch muss leben
Jurkowski und Krutikow (bekannt aus Atomvulkan Golkonda) stoßen auf ein merkwürdiges Objekt am Saturnring. Ist das ein Zeichen für außerirdische Intelligenz? Bei der Suche danach kommen beide ums Leben. Sind sie Draufgänger oder Helden? Sind sie Überbleibsel einer vergangenen Zeit, wenn sie ihr Leben riskieren, um einen Erkenntnisgewinn zu erreichen? Später werden wir die Frage in der Geschichte „Planetenerkunder“ weiter vertiefen.
Spezielle Voraussetzungen
Kosmonauten verlassen die Erde zu interstellaren Flügen nahe der Lichtgeschwindigkeit. Während die ersten beiden Expeditionen sich auf eine Reise in die Zukunft begeben, entwickelt die dritte Expedition eine Möglichkeit, der Zeitdilatation ein Schnippchen zu schlagen. Somit läuft die Zeit für die Kosmonauten sogar schneller ab als auf der Erde. Erzählt wird die Geschichte aus drei Perspektiven: der des Freundes, aus der Sicht der zurückbleibenden Geliebte und der des Kosmonauten. Und so ganz nebenbei klingt die Frage an, wenn die Kosmonauten zum Start aufbrechen zu einer Reise, von der sie erst in 200 Jahren wiederkehren: was ist eigentlich dieser Abschied für immer? Ist das schon der Tod?
Planetenerkunder
Die Heldenfrage stellt sich in der Geschichte von den Planetenerkundern. Wir befinden uns in der Umlaufbahn eines fremden Planeten, der Wladislava. Die Erforschung ist schwierig, die Atmosphäre so heftig, dass eine Landung ausgesprochen schwierig ist. Als der Biologe Sidorow, der schon seit geraumer Zeit wartet, auf dem Planeten Leben nachweisen möchte, stellt sich eine wichtige Frage im Mittagsuniversum: Wann ist der kommunistische Mensch der Zukunft ein Held? Darf er sein Leben für einen Erkenntnisgewinn riskieren? Und das seiner Genossen? Wie viel darf man riskieren – zum Wohle der Gemeinschaft?
Tiefsee-Erkundung
Wir kehren zurück auf die Erde. Die Ozeane werden mittlerweile flächendeckend wirtschaftlich genutzt. Zum Schutz der Walherden patrouillieren bewaffnete Einmann-Schutz-Unterseeboote in den Tiefen des Meeres. Die Praktikanten Akiko und Below begleiten den Submarin-Fahrer Kondratjew auf seiner Jagd auf einen riesigen Kalmar, der die Walzucht stört.
Kerzen vor dem Pult
Der Wissenschaftler Okada liegt im Sterben. In dem weiträumig abgesperrten und isolierten Institut, dass keinerlei Elektrogeräte erlaubt, wird sein Gehirn auf einen Biomassespeicher übertragen, von dem aus der Forscher eines Tages wieder auferstehen soll.
Zwei junge Wegbegleiter – unter ihnen Akiko – wollen vor dem Tod noch einmal zu ihm.
Seit Tagen arbeitet ein Team völlig übernächtigter Wissenschaftler gegen die Zeit an, um die Nervenbahnen Okadas zu scannen und in riesigen Biomasse-Speichern abzulegen.
Aber: Ist es wirklich Unsterblichkeit, wenn man 98 Prozent eines Gehirns scannt und in ungewisser Zukunft in einen lebenden Organismus zurückverpflanzt?
Von Wanderern und Reisenden
Ein Wissenschaftler markiert „Septopoden“, eine neue Art von Kopffüßlern, die kürzlich entdeckt wurden, mit Ultraschallsendern. Die Tiere, die eigentlich im Meer heimisch sind, verbreiten sich seit kurzem auch in Binnengewässern – und wandern bis zu 30 Kilometer über Land (mit Hilfe von wasserspeichernden Pflanzen).
Der Astroarchäologe Gorbowski erzählt von einer interstellaren Reise, nach der er, seine Crewkameraden und sein Raumschiff plötzlich elektromagnetische Wellen aussenden. Dabei kommen zwei Fragen auf: Was eigentlich ist „intelligentes Leben“, nach dem wir im Weltall suchen? Und werden wir von einer außerirdischen Intelligenz überhaupt als intelligentes Leben wahrgenommen? Oder ist die Menschheit auch nur eine seltsame Spezies, die man mit Hilfe von (elektromagnetisch sendenden) Markern untersuchen kann?
Ein gut eingerichteter Planet
In dieser Geschichte nehmen die Strugazki-Brüder ein echtes Erstkontakt-Szenario unter die Lupe. Auf einem sehr erdähnlichen Planeten soll erkundet werden. Die Spuren einer Stadt geben den Astroarchäologen und Erkundern Rätsel auf – ähneln sie doch überhaupt nicht denen, die vom Mars und der Wladislava bekannt sind. Überhaupt gibt es sehr fremdartige Sachen auf dem Planeten: riesige Greifvögel, und auch ein riesiges Tier, dass Honig produziert. Als plötzlich Gegenstände im Lager verschwinden, legen sich die Expeditionsteilnehmer nachts auf der Lauer – und stoßen dabei auf einen unerwarteten Gegner. Der sofortige Abbruch der Mission wird angeordnet. Offenbar ist die Menschheit hier zum ersten Mal seit Anbeginn der Zeit auf außerirdische Intelligenz gestoßen. Eine biologische Zivilisation. Jetzt müssen die Kontakt-Experten von der Erde übernehmen.
Der Jäger
Eine sehr melancholische, ja eher schon traurige Geschichte ist Der Jäger. Der Protagonist, mittlerweile alt geworden, durchstreifte jahrzehntelang fremde Welten, um Exponate für das Exo-Fauna-Museum in Kapstadt zu besorgen. Bei einer seiner Fahrten hat er ein Wesen erlegt – von dem er sich mittlerweile sicher ist, dass es sich nicht um die indigene Fauna des Planeten handelte, sondern um den verirrten Raumfahrer einer anderen Zivilisation. Auch hier stellt sich unvermeidlich die Frage: was ist überhaupt Tierwelt, was „beseeltes“, intelligentes Leben? Und macht es einen Unterschied, ob man auf das eine oder das andere schießt? Ganz davon abgesehen, dass man aus einer heutigen Perspektive diesem Panoptikum gekillter Außerirdischer wahrscheinlich auch eher zurückhaltend gegenübertreten würde. Als die Strugazki-Brüder die Geschichte schrieben, waren solche Ausstellungen als Vermittlungsort von Allgemeinbildung allerdings noch sehr hipp.
Die Niederlage
In Die Niederlage schließen sich einige Kreise aus den vorangegangenen Erzählungen. Der Biologe und Landeflieger Sidorow, den wir schon aus Planetenerkunder kennen, ist alt geworden. Er reist nicht mehr zu den Sternen, sondern wird beauftragt, einen wissenschaftlich-technischen Test auf der Erde durchzuführen. Langweilig. Noch dazu soll er zwei Grünschnäbel mitnehmen. Auf den nördlichen Kurilen gilt es, „Kyberembryonen“ zu testen: ein selbstreproduzierender Roboter, der sich – einmal an die Umgebung angepasst – in jedes gewünschte technische System umbauen kann.
Er soll im All getestet werden, und in extremen Bedingungen auf der Erde. Da sind die Kurilen wirklich die langweiligste Testumgebung. Bis man auf die Hinterlassenschaften des Zweiten Weltkrieges stößt. Mit denen kann weder der Roboter umgehen noch die Menschheit in zweihundert Jahren. Der alte Sidorow entwickelt sich zu den alten, die ihn herablassend behandelten, als er selbst jung war. Der Mensch des Mittags trifft auf den Menschen von heute. Die Jungen von Morgen haben die Chance, aus dieser Begegnung zu lernen.
Erik Simon: Die gut eingerichtete Welt des Mittags
Im Dezember 1976 erklärt uns Erik Simon das Mittags-Universum der Strugazki-Brüder, ihre Helden und ihre Fragen. Der Essay ist kein reines Erklärstück, sondern in sich auch eine künstlerische Ergänzung zu dem zusammengestellten Mittag 22. Jahrhundert.
Fazit
Ich mag den Erzählstil der Strugazki-Brüder (den Aljonna Möckel wunderbar übersetzt hat) – und damit hat diese Sammlung natürlich schon mit Pluspunkten bei mir gestartet. Nimmt man sich die Zeit, die einzelnen Episoden tiefgründig zu lesen, erwacht das Universum des Mittags in einer ähnlichen unbändigen Kraft, wie sie später Karsten Kruschel in seinem Vilm-Universum erbaut. Es ist keine Space-Opera, die hier erzählt wird – aber eine wunderbare Sammlung von Blitzlichtern, die zusammengeführt ein dreidimensionales und ausgesprochen plastisches Bild vom Werden einer guten Gesellschaft im 22. Jahrhundert erzählt.
Über das Buch Mittag 22. Jahrhundert
Die mir vorliegende zweite Auflage des Buches Mittag 22. Jahrhundert erschien 1980 (Erstauflage 1977) im Verlag Das Neue Berlin zum Preis von 8,60 Mark. Auf 341 Seiten sind die Geschichten der Brüder und das Nachwort von Erik Simon ausgebreitet. Das Buch stellt eine Auswahl von Geschichten aus den Originalen „Alpha Eridana“ (Moskau, 1960), „Polden, 22. wek“ (Moskau, 1967) und „Stascheri“ (Moskau, 1968) dar. Die Übersetzungen aus dem Russischen besorgte Aljonna Möckel. Die Illustrationen zu Mittag 22. Jahrhundert und auf dem Schutzumschlag lieferte Carl Hoffmann.
Mittag 22. Jahrhundert im Internet
Andreas Reber, der sogar seinen Weblog-Titel an das Universum von Mittag 22. Jahrhundert der Strugazki-Brüder anlehnt, beschäftigt sich hier mit derm Mittags-Zyklus.
Der Grafiker Anselm Zielonka hat sich im Rahmen seiner Master-Arbeit mit dem Werk der Strugazki-Brüder auseinandergesetzt und entführt hier in seine echt sehenswerten Visualisierungen dieses Kosmos.
Klappentext zum Buch
Zehn Erzählungen der Brüder Strugazki stellt dieser Band vor: über Abenteuer bei der Erforschung unseres Sonnensystems um die Jahrtausendwende, vom Start einer der ersten interstellaren Expeditionen und aus der Welt des 22. Jahrhunderts. Die Autoren erzählen von einem Kampf mit Marsungeheurern und einem gefährlichen Erkundungsflug in den Saturnringen, von Experimenten auf der Erde, Begegnungen mit vernunftbegabten Wesen auf den Planeten fremder Sterne – und von den Menschen, die sich eine Welt geschaffen haben von der wir noch träumen, und die dennoch weiter auf der Suche sind, weil sie trotz all ihrer schier übermenschlichen Errungenschaften Menschen geblieben sind.
Mittag 22. Jahrhundert, Das Neue Berlin 1977
Über die Autoren Arkadi und Boris Strugazki
Die beiden Brüder Arkadi und Boris Strugazki sind wohl die Personifizierung des russisch-sowjetischen Science-Fiction-Genres. Ihre Gesamtauflage liegt bei über 50 Millionen Büchern. Sie wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt – und ihr Lebenswerk erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte: von der optimistischen Zeit der Kosmos-Entdecker in den 1950er Jahren bis weit nach der politischen Wende 1989/90.
Arkadi, der ältere der beiden, wird 1925 in Batumi geboren. Acht Jahre später kommt Boris zur Welt, als in Deutschland Hitler gerade an die Macht gekommen ist.
Sie ziehen mit dem Vater, der Bolschewik der ersten Stunde und später General in der Armee ist, nach Leningrad um, wo auch der Zweite Weltkrieg, der Große Vaterländische Krieg für die Russen, über die Familie hereinbricht. Arkadi flieht 1942 mit dem Vater aus der belagerten Stadt, wird später Armee-Dolmetscher für Japanisch. Nach dem Krieg arbeitet er als Lektor und Übersetzer für japanische und englische Literatur in Moskau.
Boris bleibt vorerst mit der Mutter in der Stadt. Nach dem Krieg studiert er Physik in Leningrad und hätte um ein Haar promoviert. Mitte der 1950er Jahre beginnen beide, zusammen phantastische Literatur zu schreiben. Und damit beginnt die Legende.
Arkadi stirbt 1991 in der großen Stadt an der Ostsee, die damals noch Leningrad heißt. 2012 folgt ihm Boris ins Grab. Er stirbt am gleichen Ort: der heißt jetzt St. Petersburg.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat einen sehr intensiven Nachruf auf das Brüderpaar veröffentlicht. Einen Überblick über das Schaffen der beiden vermitteln die Werkschau bei der TAZ und dem Deutschlandfunk. Erik Simon liefert auf der Webseite des Golkonda-Verlages eine etwas ausführlichere Biographie des Autoren-Duos.
Hier im Phantastischen Bücherschrank habe ich folgende Bücher der Gebrüder Strugazki unter die Lupe genommen:
Aus einem Klappentext zu den Autoren
Arkadi und Baris Strugazki veröffentlichten ihren ersten Roman 1959 und zählen zu den bekanntesten sowjetischen Phantastik-Autoren. Ein Großteil ihrer Werke ist auch in der DDR erschienen. Arkadi wurde 1925 geboren, kämpfte im Großen Vaterländischen Krieg und studierte anschließend Anglistik und Japanologie. Er war Referent und Lektor im Verlagswesen, daneben Übersetzer und Herausgeber. Boris, 1933 geboren, arbeitete nach Studium und Aspirantur als Stellarastronom im Observatorium Pulkowo. Gegenwärtig leben die Strugazkis als freie Schriftsteller, Arkadi in Moskau, Boris in Leningrad. Sie schreiben auch viel für Theater und Film, u.a. das Szenarium für einen Film A. Tarkowskis nach ihrer Erzählung „Picknick am Wegesrand“.
Mittag 22. Jahrhundert, Das Neue Berlin 1977
Hallo Herr Baumbach, die URL zum Beitrag »Mittag, 22. Jahrhundert« auf meiner Homepage hat sich geändert. Sie lautet jetzt: https://life-in-the-22nd-century.de/buchrezensionen/mittag-22-jahrhundert.html
LG aus Dessau von Andreas Reber