Einen Politthriller wollte Thomas Mielke schreiben, eine Utopie Westberlins in der nahen Zukunft. Aus der Warte der 1983 abgeschlossenen Ur-Fassung von „Der Tag an dem die Mauer brach“ ist ihm das sicher auch gelungen. Wer den Roman nach 1990 liest, bekommt jedoch zusätzlich noch Gänsehaut – greift er doch den Fall der Berliner Mauer auf. Für das Jahr 1987.
Aber von vorn: Zwischen einer Desinformations-Sondereinheit des amerikanischen Militärs, einer Hollywood-Werbefirma und einer bundesdeutschen Armee-Einheit, sich sich für den Ernstfall vorbereitet, reift eine Filmidee heran: möglichst realistisch soll in West-Berlin ein Film gedreht werden, der das Ende des Kalten Krieges zeigen soll. Und offenbar hat nicht nur der Strippenzieher hinter dem Filmprojekt seine ganz eigene Motivation, den Film zu drehen, sondern auch allerhand andere Protagonisten in der Frontstadt inmitten der DDR.
Da plötzlich verschwindet der Produzent des Ganzen. Und ein Ersatzmann soll den Film zu Ende drehen, für den das Drehbuch erst vom Erdboden verschluckt ist, und hinterher in verschiedenen Versionen wieder auftaucht: als Finte für die Sowjets. Aber auch als Planspiel für den Fall, dass der Kalte Krieg mitten in Europa plötzlich heiß wird.
Zwischen Journalisten, Beamten, Uniformträgern, alten Nazis und Neonazis der Arminius-Front entwickelt Thomas R. P. Mielke einen spannenden Roman in einer glaubhaften Westberliner Atmosphäre.
Da man den Roman heute natürlich mit ganz anderen Augen als 1985 liest, ist es um so interessanter, welche prophetischen Gedanken Mielke einfließen lässt. Unter anderem sieht er nämlich die Integrationsschwierigkeiten voraus, die eine Wiedervereinigung Berlins und damit über Kurz oder Lang auch beider deutscher Staaten mit sich bringen würde:
„Wenn ich ein Sachse wäre…“, sagte Jo Petersen mühsam, „ … wenn ich ein Sachse wäre, würde ich alles Menschenmögliche unternehmen, damit … hip … diese Scheiß-Westdeutschen nicht eines Tages vor meiner Haustür stehen…alles miesmachen…mich für die vierzig Jahre Knochenarbeit auslachen … Kommunist zu mir sagen … und dann das … hip … beste Land zusammenkaufen…
Seite 191f.
Er hielt die Luft an, doch seinen Schluckauf konnte er damit nicht unterdrücken
„Daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht“, sagte Mischa.
„Siebzehn Millionen Neger in einem wiedervereinigten … hip… Deutschland!“ nickte der Journalist. „Manche könnten sich sehr schnell einordnen, aber die … hip … Sachsen … die die würden noch Jahrzehnte das Kainsmal … tragen! Den Dialekt kriegst du nie weg…“
Aber nicht nur dort bewies Mielke Weitblick. Die Unverbrüchlichkeit der transatlantischen Freundschaft konnte auch Mitte der 1980er Jahre in Frage gestellt werden. Die Gründe dafür sind aus der Perspektive von 2020 aber erschreckend aktuell:
„Wer Berlin aufgibt, riskiert auch Europa“, sagte der Regierende Bürgermeister.
Seite 266
„Sicher, das ist die offizielle Lesart“, sagte Petersen. „Aber mögen denn die Amerikaner die Europäer noch? Wir kosten doch nur Geld und machen dann auch noch heimlich Geschäfte mit Gas-Pipelines, Maschinen und was weiß ich!“
Was mich sehr positiv überrascht ist der Blick über den Tellerrand, der in dem speziellen Fall ja eher ein Mauerrand ist. Nicht alle Amerikaner sind Säulenheilige. Nicht alle Sowjets sind brutale Killermaschinen. Ja, es gibt sogar den menschlichen NVA-General.
Als Musiktipp zur Lektüre empfehle ich David Bowie.
Fazit
Insgesamt bleibt „Der Tag an dem die Mauer brach“ ein schönes Lesestück, kurzweilig und linear erzählt. 1986 erhielt der Roman deswegen auch zu Recht den Literaturpreis des Science Fiction Club Deutschland. Der Stern soll dem Autor dazu geschrieben haben: „Die Berliner Mauer ist kein Thema – und wird es in den nächsten 25 Jahren auch nicht werden.“
Über das Buch Der Tag an dem die Mauer brach
Meine Paperback-Ausgabe ist 1985 bei Bastei Lübbe unter der ISBN 3-404-13024-3 erschienen und kostete 6.80 D-Mark. Insgesamt breitet Mielke seine Story hier auf 281 Seiten aus.
Klappentext
Berlin im Frühjahr 1987: Attentate auf Offiziere der Besatzungsmächte. Volksaufmärsche in Ostberlin. Demonstrationen auf dem Ku-Damm. Und schließlich eine Massenverbrüderung zwischen den Deutschen über die Mauer.
Erst ist das alles nur ein Film-Drehbuch. Aber dann wird aus der Filmidee eine hochexplosive politische Realität.
Der Wahl-Berliner Mielke hat sich bereits als Science Fiction-Autor einen Namen gemacht und wurde 1984 mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet. Mit seinem neuen Roman schrieb er einen aktuellen Polit-Thriller von ungewöhnlicher Brisanz.
Über den Autor Thomas R. P. Mielke
Thomas R. P. Mielke wurde am 12. März 1940 in Detmold geboren. Bei der Bundeswehr kam er von der Fluglotserei in Hannover zu PsyOps, also dem Psychologischen Kampf. An wessen berufliche Entwicklung muss ich da wohl gerade denken? 😉
Seine Brötchen verdiente Mielke aber vorrangig in der Werbebranche, wo er der Legende nach für die Entwicklung der Überraschungseier mitverantwortlich zeichnete. Schriftstellerisch machte er sich als Mitbegründer der „Terranauten“ einen Namen. Sein Roman „Das Sakriversum“ erhielt 1984 den Kurd-Laßwitz-Preis. Für „Der Tag an dem die Mauer brach“ erhielt Mielke 1986 den Deutschen Science Fiction-Preis. Daneben beschäftigte sich Thomas Mielke schriftstellerisch aber auch mit Historienromanen.
Thomas Rudolf Peter Mielke starb am 31. August 2020 in Bernau bei Berlin.
Sein Sohn Marcus O. Mielke widmete seinem Vater einen Nachruf. Perry-Rhodan-Autor Michael Marcus Thurner führte mit Mielke ein langes Interview. „Die Zukunft“ von Random House ruft Mielke auch nach, genau wie Wilhelm Ruprecht Frieling.
Sein Sohn Marcus O. Mielke widmete seinem Vater einen Nachruf. Perry-Rhodan-Autor Michael Marcus Thurner führte mit Mielke ein langes Interview. „Die Zukunft“ von Random House ruft Mielke auch nach, genau wie Wilhelm Ruprecht Frieling. Hier auf dem Blog habe ich von Thomas R.P. Mielke folgende Bücher rezensiert:
Hallo und guten Tag,
vielen Dank für diesen schönen Artikel.
Es ehrt mich, dass über die Werke meines Vaters zu lesen.
Beste Grüße und alles Gute
Marcus O. Mielke