Ein Planet geht seiner Vernichtung entgegen. Aufgrund eines fehlgeschlagenen Experiments nähern sich zwei Wellen der Zerstörung von den Polen dem Äquator – und den Menschen auf dem Planeten müssen innerhalb weniger Stunden entscheiden, was gerettet wird. Die Autoren Arkadi und Boris Strugazki siedeln ihren Kurz-Roman Der ferne Regenbogen im Mittags-Zyklus an.
Der Planet Regenbogen ist eigentlich ein großes Labor für Null-Physiker. Damit bezeichnen die Strugazkis offenbar den sozialistischen Versuch, Teleportation oder „Beamen“ durchzuführen. Die Forscher stehen dabei noch ganz am Anfang ihrer Forschungen. Ungewollte Nebenwirkungen (Energiewellen, die sich von den Polen ausbreiten) werden dabei nicht nur in Kauf genommen, sondern gesondert untersucht. Ganz nebenbei wird der Planet aber auch besiedelt – von den Familien der Forscher genauso wie von Landarbeitern und Co., die irgendwann eine autarke Versorgung des Planeten ermöglichen sollen.
Sogar ein „Kinderstädtchen“ gibt es auf Regenbogen, in dem zahlreiche Kinder vom Säuglingsalter bis zur Oberschule untergebracht sind. Und Urlauber kommen nach Regenbogen, Aussteiger und Künstler, die sich in die Ruhe und Abgeschiedenheit des Provinzplaneten zurückziehen, dessen Oberfläche eine Steppe in flirrender Hitze ist, deren Salzausdünstungen ankündigen, dass sich unter der Planetenoberfläche große Erzvorkommen verbergen, die nach dem Abbau irgendwann per Null-Transport zur Erde geschickt werden sollen.
Als die Strugazki-Brüder uns mit auf die Reise zum Regenbogen locken, ist noch alles in Ordnung. Im ersten von zehn blitzlichtartigen Kapiteln flirtet Robert, einer der Techniker, mit einer jungen Frau und sehnt sich nach dem Feierabend, als er einen fatalen Fehler in der Versuchsanordnung entdeckt. Kurz darauf besuchen die Piloten Gorbowski und Mark Walkenberg einen Ex-Piloten, der jetzt Direktor von Regenbogen ist.
Mangelwirtschaft beherrscht sein Arbeitsfeld. Energie beziehen die Verbraucher von sogenannten Ulmotronen – kleinen, etwa zentnerschweren autarken Reaktoren. Energiediebstahl ist an der Tagesordnung zwischen den Forschungsstellen. Und die Probleme des Randbezirks-Planeten interessieren auf der zentralen Erde nicht die Bohne. Es ist schwer, hier keine Kritik am real existierenden Sozialismus herauszulesen.
Robert und sein exzentrischer Kollege Kamillo sind im Dienst auf einem Beobachtungsturm, als die Katastrophe Gestalt annimmt. Von Norden her wird ihre Station von der P-Welle überrollt. Robert sieht seinen toten Kameraden im Staub unter einem umgestürzten Fluggerät liegen und flieht. Aber ist Kamillo wirklich tot?
Am Kosmodrom herrscht unterdessen Chaos. Zahlreiche Leute geben sich als Besatzungsmitglieder aus, um an die Energiequellen zu gelangen, die die „Tariel II“ geladen hat. Kommandant Gorbowski (den wir schon aus Mittag 22. Jahrhundert als Astroarchäologen kennen) spielt das Spiel mit, bis er zum Direktor gerufen wird.
Dort angekommen eröffnet ihm der Chefphysiker des Planeten, dass die neuartige P-Welle sämtliche Gegenmaßnahmen überwunden hat. Die Evakuierung, beginnend mit dem Kinderstädtchen, wird vorbereitet.
Robert und Patrick räumen und evakuieren eine weitere Station. Unter Lebensgefahr versuchen sie, Welle mit Charybden zu stoppen. Diese Spezial-Panzer sollen die Energie der Welle in den Planetenkern lenken, fliegen aber einer nach dem anderen in die Luft. Die beiden fliehen und trennen sich dabei.
Robert fliegt zum Kinderstädtchen, um seine Geliebte zu retten. Dort sind aber alle schon weg. Unterwegs ist ein Aerobus mit Kindern und Erziehern mit leerem Tank liegengeblieben. Robert schnappt sich seine Tanja, lässt den Fahrer Gaba und die Kinder zurück.
Bei einer Vollversammlung der Planetenbevölkerung wird die Frage geklärt, wer gerettet werden soll: Forscher oder Kinder?
Beim Einsteigen in die „Tariel II“ spielen sich herzzerreißende Abschiedsszenen ab. Da ist Mutter, die nicht loslassen kann. Schüler, die sich opfern wollen. Der Künstler, der sein letztes Bild mitgibt, um es zur Erde zu schicken und die Forscher, die kartonweise Forschungsergebnisse mitschicken wollen. Das Raumschiff platzt aus allen Nähten, ist voller Kinder. Der Pilot geht an Bord, Ingenieur und Kommandant Gorbowski bleiben zurück.
In einer letzten Szene nehmen die Menschen Abschied voneinander und bereiten sich auf den Tod vor. Die beiden Wellen treffen sich fast, im Westen geht wunderschön die Sonne über dem Meer unter. Gorbowski trifft auf Kamillo, der drei Mal an diesem Tag starb und drei Mal auferstanden ist – nur um später noch ein viertes Mal wieder aufzuerstehen und dann allein in einer Wüste von Schnee und Asche zu bleiben. Er ist einer der „Teufelsbrüder“ – Forscher, die mit ihren Forschungssystemen einst verschmolzen, unsterblich zwar, aber dabei der menschlichen Gefühlswelt verlustig.
Fazit
Die Strugazki-Brüder liefern im fernen Regenbogen eine nur schwach verhehlte Parabel auf die Art und Weise, wie in der Sowjetunion mit Menschen umgegangen wurde. Mit wenigen Änderungen könnte man den Text abwandeln auf eine Geschichte der Atombombentests auf Nowaja Semlja – oder Kasachstan. Auch die sozialistische Gesellschaft bekommt ihr Fett weg – besteht sie doch weiterhin aus Individuen, die die ganze Bandbreite vom sowjetischen Helden bis zum selbstsüchtigen Subjekt abdecken.
Über das Buch Der ferne Regenbogen
Meine kleine Hardcoverausgabe erschien in zweiter Auflage 1973 bei Das Neue Berlin. Ulrich Hachulla gestaltete die Grafiken im Buch. Der Endverbraucherpreis (EVP) des Büchleins mit 223 Seiten betrug 5,80 Mark. Aljonna Möckel hat stilsicher übersetzt. Im Original hieß die Erzählung Далёкая Радуга (Dalekaja Raduga) und erschien 1963.
Beim Lesen des Buches hatte ich übrigens ständig einen Ohrwurm: Я люблю природу der Band Земляне. Das sind die selben, die Трава у дома geschrieben haben – der Song, der traditionell bei den Raketenstarts in Baikonur gespielt wird.
Der ferne Regenbogen im Netz
Eine wundervolle und sehr tiefgehende Analyse der Geschichte findet sich bei meinem Fast-Nachbarn Andreas Reber im Blog Life in the 22nd Century. Dort gibt es auch eine Übersicht über die handelnden Charaktere im Mittags-Zyklus – unter anderem des sympathischen Kommandanten Gorbowski.
Auch Wolfgang Kucher hat sich mit dem Kurz-Roman beschäftigt, der eigentlich eine „Powest“ ist, wie ich bei ihm erfahren durfte (eine Prosa-Erzählung geringen Umfangs zwischen Roman und Erzählung). Er beleuchtet im Wesentlichen andere Aspekte, die bei Reber nicht herausgearbeitet werden.
Über die Autoren Arkadi und Boris Strugazki
Die beiden Brüder Arkadi und Boris Strugazki sind wohl die Personifizierung des russisch-sowjetischen Science-Fiction-Genres. Ihre Gesamtauflage liegt bei über 50 Millionen Büchern. Sie wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt – und ihr Lebenswerk erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte: von der optimistischen Zeit der Kosmos-Entdecker in den 1950er Jahren bis weit nach der politischen Wende 1989/90.
Arkadi, der ältere der beiden, wird 1925 in Batumi geboren. Acht Jahre später kommt Boris zur Welt, als in Deutschland Hitler gerade an die Macht gekommen ist.
Sie ziehen mit dem Vater, der Bolschewik der ersten Stunde und später General in der Armee ist, nach Leningrad um, wo auch der Zweite Weltkrieg, der Große Vaterländische Krieg für die Russen, über die Familie hereinbricht. Arkadi flieht 1942 mit dem Vater aus der belagerten Stadt, wird später Armee-Dolmetscher für Japanisch. Nach dem Krieg arbeitet er als Lektor und Übersetzer für japanische und englische Literatur in Moskau.
Boris bleibt vorerst mit der Mutter in der Stadt. Nach dem Krieg studiert er Physik in Leningrad und hätte um ein Haar promoviert. Mitte der 1950er Jahre beginnen beide, zusammen phantastische Literatur zu schreiben. Und damit beginnt die Legende.
Arkadi stirbt 1991 in der großen Stadt an der Ostsee, die damals noch Leningrad heißt. 2012 folgt ihm Boris ins Grab. Er stirbt am gleichen Ort: der heißt jetzt St. Petersburg.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat einen sehr intensiven Nachruf auf das Brüderpaar veröffentlicht. Einen Überblick über das Schaffen der beiden vermitteln die Werkschau bei der TAZ und dem Deutschlandfunk. Erik Simon liefert auf der Webseite des Golkonda-Verlages eine etwas ausführlichere Biographie des Autoren-Duos.
Hier im Phantastischen Bücherschrank habe ich folgende Bücher der Gebrüder Strugazki unter die Lupe genommen:
Aus einem Klappentext zu den Autoren
Arkadi und Baris Strugazki veröffentlichten ihren ersten Roman 1959 und zählen zu den bekanntesten sowjetischen Phantastik-Autoren. Ein Großteil ihrer Werke ist auch in der DDR erschienen. Arkadi wurde 1925 geboren, kämpfte im Großen Vaterländischen Krieg und studierte anschließend Anglistik und Japanologie. Er war Referent und Lektor im Verlagswesen, daneben Übersetzer und Herausgeber. Boris, 1933 geboren, arbeitete nach Studium und Aspirantur als Stellarastronom im Observatorium Pulkowo. Gegenwärtig leben die Strugazkis als freie Schriftsteller, Arkadi in Moskau, Boris in Leningrad. Sie schreiben auch viel für Theater und Film, u.a. das Szenarium für einen Film A. Tarkowskis nach ihrer Erzählung „Picknick am Wegesrand“.
Mittag 22. Jahrhundert, Das Neue Berlin 1977