Der Damm gegen das Eis - Herbert Friedrich - Buchcover: Rolf F. Müller

Der Damm gegen das Eis – Herbert Friedrich

Eine Baustellengeschichte ist Der Damm gegen das Eis von Herbert Friedrich. Aber nicht irgendeine Baustellengeschichte – sondern ein großes Tagebuch der ingenieurtechnischen Leistung an einem Großprojekt genau wie ein Tagebuch über die Entwicklung der Menschen, die an dem Bau mitwirken.

Schon seltsam, dass es wirklich mal eine Zeit gab, in der eine blühende Arktis erstrebenswert war. Wir leben heute schon mit den Folgen des Klimawandels, die Gott sei's geklagt, nicht nur positiv sind. Im Jahr 1964 erschien eine schmelzende Polkappe noch wünschenswert. Grasende Rinderherden in den Weiten der sibirischen Taiga will man, eine schiffbare Nordost- und Nordwestpassage – und übersieht dabei, dass man dadurch nicht nur Europa und Nordamerika austrocknet, sondern wahrscheinlich den kompletten Tropengürtel röstet. Aber wie gesagt: 1964 war man wohl noch nicht wo weitsichtig.

Und ein wenig künstlerische will man Herbert Friedrich natürlich auch zugestehen. Und: Eines muss man den Kommunisten lassen: große Ideen konnten sie. Dabei reiht sich das Projekt, dass Friedrich umreißt, nahtlos ein in andere ingenieurtechnische Großprojekte. Atlantropa etwa von Sörgel (dessen Gedanken ja auch bei „Der letzte Tag der Schöpfung“ von Wolfgang Jeschke mit einfließen), der Dawydow-Plan oder das Fluten der Qattara-Senke.

Es geht um nichts weniger als die physische Verbindung der östlichen mit dem amerikanischen Festland über ein System von Tunneln und Dämmen, die entlang der Aleuten-Inselkette verlaufen sollen.

Der Damm gegen das Eis - Herbert Friedrich - vordere Einbandinnenseite
Der Damm gegen das Eis – Herbert Friedrich – vordere Einbandinnenseite

Und auch, wenn uns solche Großprojekte heute zum Schmunzeln und Zweifeln bringen. Auch der Plan, in den Niederlanden Neuland durch Meeresregulation zu erschaffen oder einen Verkehrstunnel zwischen Großbritannien und Frankreich zu bauen waren irgendwann mal kühne Utopien.

Aber zum Setup: Das Buch schildert aus der Perspektive der Mittsechziger eine Zukunft im Jahr 2005+. Die USA wurden 1980 zu einer sozialistischen Gesellschaft. Ein Ingenieur kommt mit seinen buntgewürfelten Truppen auf den Diomede-Inseln in der Bering-Straße an. Die beiden Inseln, die es auch im richtigen Leben gibt, sind nicht nur der zentrale Anker des Romans, sondern auch ein Kulminationspunkt zwischen den USA und der Sowjetunion, da sie nur wenige Kilometer voneinander trennen, zwischen ihnen aber nicht nur jahrzehntelang die Frontlinie des Kalten Krieges verlief, sondern auch die Datumsgrenze.

Die Ratmanov-Insel links, rechts die Kleine Diomedes-Insel. Foto: Ansgar Walk, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons

Letztere wird für die Bauarbeiten kurzerhand zwischenzeitlich auf den den 160. Längengrad verschoben. Das kann man genau so einfach machen, wie man ein paar Jahre zuvor einfach mal den Kalender umgestellt hat, damit man sich besser merken kann, wie lang so ein Monat ist. Die sind jetzt nämlich alle gleich lang.

Das ist aber nur eine von vielen Zukunftsanekdoten, die Friedrich einwirft, der ansonsten viel Phantasie beweist bei der Ausgestaltung seiner .

Im Konflikte heraufbeschwören ist er nicht weniger fantasievoll: die rückwärtsgewandten Eskimos, die sich nicht nur um ihren traditionellen Lebensstil sorgen, sondern auch um Robben, Wale, Vögel Felle stehen den vorwärtsgewandten jungen Technikern mit ihren großen Visionen gegenüber. Die Amerikaner mit ihrer kapitalistischen Vergangenheit treffen auf die Bürger der Sowjetunion, die schon ein Menschenalter im Sozialismus leben. Traditionelles Frauenbild trifft auf emanzipierte, freie Frauen. Macho-Männer treffen auf emanzipierte Männer. Immer wieder nagelt Friedrich diese Konflikte in einer der vielen Romanrollen fest. Ja, sogar der jahrzehntelang Kampf eines farbigen Ingenieurs gegen den Lynchmord an seiner Mutter wird umrissen – und zu einem guten Abschluss gebracht.

Über elf Jahre hinweg begleiten wir die Bauarbeiten. Wir verfolgen Söhne, die ihren erfolgreichen Eltern nacheifern und scheitern. Wir erleben Söhne von schlimmen Menschen, die sich zu wertvollen Mitgliedern der Gemeinschaft entwickeln. Und Söhne, die ihre Väter überflügeln. Eingebettet in eine große Explosion auf der Baustelle erfahren wir viele Gräueltaten der Vergangenheit, die zur Entfremdung zweier Freunde führten, und die sich am Damm wieder versöhnen.

Der Damm gegen das Eis - Herbert Friedrich - hintere Einbandinnenseite
Der Damm gegen das Eis – Herbert Friedrich – hintere Einbandinnenseite

Es herrscht Lebensgefahr für die vier Insassen zweier Tauchboote! Und im Nachgang wird klar, dass das jahrzehntelange Misstrauen der feindlichen Systeme bis in die Neuzeit herüberstrahlt. Was als Bau einer Raketenbasis im Eis gegen die Sowjetunion begann, führt auch heute noch zur Vorverurteilung des ehemaligen Gegners.

Der Sozialismus ist gut und erstrebenswert, aber seine Menschen sind mitunter nicht fehlerfrei – so lese ich heute Friedrichs Kernaussage. Damit begibt er sich fast auf den literarischen Duktus von Erik Neutsch‚ großer Baustellen-Geschichte „Spur der Steine„.

Fazit

Die Kern-Parabel vom Moses, der das Meer teilt, um sein Volk vor der Gefahr zu retten, würde ich jetzt vielleicht nicht in dem Buch erblicken, aber ich gehe mit Otto-Werner Förster mit, der „Der Damm gegen das Eis“ in „Die Science-fiction der – Autoren und Werke“ (Simon/Spittel) in eine Reihe mit Kellermanns „Der Tunnel“ stellt. Der wiederum war wegweisend für viele Zwischenkriegspublikationen der sogenannten oder Produktions-SF a la Hans Dominik oder Eugen Sieg. Ich denke, das ist gerechtfertigt, auch wenn das Buch manchmal sehr in Zwischentönen und -ebenen spielt, bleibt es flüssig zu lesen.

Über das Buch Der Damm gegen das Eis

Der Damm gegen das Eis - Herbert Friedrich - Buchcover: Rolf F. Müller
Der Damm gegen das Eis – Herbert Friedrich – Buchcover: Rolf F. Müller

Der als „Zukunftsroman“ gekennzeichnete Roman „Der Damm gegen das Eis“ erschien in der DDR im Jahr 1964,. Die mir vorliegende dritte Auflage des Mitteldeutschen Verlages aus Halle/Saale wurde zwei Jahre später gedruckt. Das Buch umfasst 355 Seiten inklusive eines Personenregisters und eines vor- und eines nachgestellten Gedichtes. Den Schutzumschlag gestaltete Rolf F. Müller.

Klappentext

„An einem Märznachmittag des Jahres 2005 lagen sich Insel und Schiff gegenüber…“ Herbert Friedrichs utopischer Roman versetzt uns in eine Zeit, in der der Mensch mehr als heute Beherrscher der Natur und seiner selbst ist. Das gigantische Projekt eines Dammes durch die Beringstraße, der das Vordringen kalter Wassermann in den Süden verhindert und das Eindringen warmer Ströme in das Nordmeer fördert, wird Wirklichkeit. Der alte, erfahrene Ingenieur Sobolew, einst als armer Tschuktsche auf der Insel Ratmanova geboren, kehrt mit seiner Tochter Lisa als Bauleiter auf seine Heimatinsel zurück. Friedrich gestaltet in den menschlichen Konflikten dieses Buches Schicksale, die in unseren Tagen ihren Ursprung haben. Die menschlichen und technischen Schwierigkeiten, die beim Bau des Dammes auftreten, beweisen, dass auch in Zeiten, in denen die Kriegsgefahr endgültig gebannt ist, die Verwirklichung der menschlichen Ideen im Kampf gegen die Natur noch starke und dramatische Konflikte mit sich bringt. Friedrich versteht es, in packenden Situationen die Entscheidung seiner Figuren zu motivieren. Der Ingenieur Sobolew; Potter, der Amerikaner, dessen Mutter von Lynchern in unseren Tagen erschlagen wurde; Lisa, die den amerikanischen Sumawo-Mann Galton liebt; Kirenew, dessen menschliche Kraft noch nicht ausreicht, um sich beim Bau dieses Riesenprojektes zu bewähren – sie alle sind Menschen von Fleisch und Blut, keine utopischen Schemen.

Über den Autor Herbert Friedrich

Herbert Friedrich wurde 1926 in Zschachwitz (heute Ortsteil von Dresden) und ließ sich ursprünglich während des Zweiten Krieges zum Lehrer ausbilden. Nach einem Jahr als Soldat verbrachte er vier Jahre in Gefangenschaft in Zentralasien. Nach der Rückkehr arbeitete er erst als Lehrer, später studierte er und wurde freischaffender Schriftsteller. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen finden sich viele Kinderbücher, einige davon mit Science-Fiction-Motiven. „Der Damm gegen das Eis“ bleibt sein einziger „Zukunftsroman“ für Erwachsene.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.