Da bin ich wohl durch Zufall auf ein kleines Juwel unter den Science-Fiction-Romanen gestoßen, die in der DDR erschienen sind. Dieser Band für Jugendliche hat eigentlich alles, was das Teenager-Herz im blühenden Sozialismus begehrt: eine ungeklärte Dreiecksbeziehung zwischen den drei Hauptpersonen Jaan, Ines und dem südafrikanischen Historiker Mba. Dann springt man schneller als bei James Bond durch die Weltgeschichte: Ägypten, Südafrika, Danzig, Pärnu. Außerdem strotzt das Büchlein vor supercoolen technischen Gimmicks. Und Hermes kommt auch noch drin vor.
Man fährt nicht auf der Straße – sondern mit der Straße. Raketenflugzeuge starten von Katapulten und überwinden interkontinentale Distanzen innerhalb kürzester Zeit. Mit bildgebenden Maschinen stellen Wissenschaftler ihre Gedanken in Bildern dar, um ihre Studenten zu lehren. In der Bibliothek kann man sich an den elektronischen Büchern zwischen Lesen und Vorlesen lassen entscheiden.
Und mit dem Handgelenks-Uhrenfunkgerät kann man nicht nur Musik hören, sondern auch noch auf seiner persönlichen Funkfrequenz (quasi der Mobilfunknummer) weltweit kontaktiert werden. Für Interkontinentalgespräche sollte man aber eine Relais-Station benutzen, sonst ist der Empfang so schwach. Da lobe ich mir schon mehr die Videophone in Günther Krupkats „Nabou“.
Aber nun zur eigentlichen Handlung: Wir befinden uns im 24. Jahrhundert. Der hochbegabte Elekroniker Jaan findet zusammen mit seiner Freundin einen mysteriösen Behälter, der Material aus dem 20. Jahrhundert enthält. Darin finden sich Indizien, die darauf hindeuten, dass der – natürlich weiße – südafrikanische Wissenschaftler Caesar Adams bereits im 20. Jahrhundert die Herstellung von Antimaterie beherrschte.
Zusammen mit Mba machen sich Ines und Jaan auf den Weg zum Planetoiden Hermes, auf dem das Trio das geheime Laboratorium des Forschers vermutet. Doch wird es von einem Arsenal vollautomatischer Kernwaffen geschützt? Und welche Rolle spielt die „Afrikaans-Gesellschaft zur Erforschung des Kosmos“?
Welches Geheimnis birgt der Hermes?
Ist sie wirklich nur der Tarnname einer faschistischen Gruppe, die den mittlerweile siegreichen weltweiten Sozialismus torpedieren möchte? Was jetzt nach einem weltanschaulich tiefgründigen Ansatz klingt, bleibt wohltuend im Hintergrund: das Büchlein hat es gar nicht nötig, aufdringlich über Gesellschaftsformen zu philosophieren. Dafür ist der Autor wahrscheinlich selbst viel zu sehr Wissenschaftler und kriegs- sowie stalingeschädigt gewesen.
Dennoch bleibt eine klare Aussage: Faschismus hat keine Zukunft. Und Rassismus ist unglaublich dämlich.
Am Ende läuft es auf die Frage hinaus: Konnte Adams, der geniale Wissenschaftler, sich auf die Seite einer falschen, faschistischen, rassistischen Sache stellen? Unser Protagonist Jaan fällt selbst hinein, als er entsetzt feststellen muss, dass „seine“ Ines sich in Mba verliebt hat: „Er ist doch schwarz!“
Adams in seiner selbstgewählten Verbannung hadert mit seinem Schicksal, scheint das Falsche seines Tuns zu erkennen – und ändert dennoch nichts.
Zum Ende des Buches kommt dann doch noch der erhobene Zeigefinger. In einem Gerichtsprozess wird über die individuelle Verantwortung des Trios geschwafelt. Und mal ganz ehrlich: die allerletzten Zeilen reißen mich überhaubt gar nicht vom Hocker.
Insgesamt ist „Die Spur führt zum Hermes“ aber eine kurzweilige Lektüre, die durchaus hätte vertieft werden können.
Über das Buch
Ursprünglich als „Kosmose rannavetes“ in Tallinn bei Eesti Raamat im Jahr 1966 erschienen wurde „Die Spur führt zum Hermes. Zukunftsroman“ von Alexander Baer ins Deutsche übertragen. Im Berliner Verlag Neues Leben erschien es 1970 mit 159 Seiten als Band 137 der Kompass-Bücherei.
Über den Autor
Boris Kabur wurde 1917 in Tallinn geboren, studierte an der Universität Tartu Mathematik und Physik und später Medizin. Als Röntgenphysiker an der Uni, Ozeanograph in Tallinn und Maschinenbauingenieur in Moskau verdiente er seine Brötchen, bis er unter Stalins Herrschaft im Gefängnis landete. In einem Konstrukteurslager konstruierte er die Motorkettensäge „Druschba“ (Freundschaft), die Kabur viel lieber „Taiga“ genannt hätte. Seit 1954 widmete er sich der Schriftstellerei und Literaturübersetzungen. Am 28. Januar 2002 starb Boris Kabur in Tartu. Wissenswertes rund um das Leben und Wirken des Esten gibt es hier.
Sehr coole Rezension und in einem wirklich schönen Schreibstil geschrieben! Ich denke ich werde mir das Buch demnächst bestellen! Beste Grüße, Michael Keulemann von der ASK Steuerberatung