Woher komme ich? Was bin ich? Wohin gehe ich? In „Andymon“ von Karlheinz und Angela Steinmüller wird nichts weniger versucht, als in 279 Seiten eine Kulturgeschichte der Menschen zu erzählen. Und die beiden schaffen das mit einer unglaublich dichten und spannenden Atmosphäre.
Auf einem Kolonistenschiff, dass von der Erde abgeschickt wurde, um einen zehntausend Jahre von der Erde entfernten erdähnlichen Exoplaneten im All zu besiedeln, gehen zwanzig Jahre vor der prognostizierten Landung die Lichter an. In künstlichen Gebärautomaten werden Embryonen ausgebrütet. Von Roboter-Müttern (Rammas) und Roboter-Lehrern (Guros) erzogen wachsen in Generationenschüben die ersten Gruppen von Menschen heran, die auf dem Planeten Andymon Fuß fassen sollen.
Zwischen Theorie und Praxis klaffen zwar einige Lücken, die aber dem Erzählfluss zuliebe nicht ins Gewicht fallen. So könnte man sicher hinterfragen, ob eine rein robotergestützte Sozialisation einer gesunden geistigen Entwicklung zuträglich ist – oder ob Probleme auftreten, die angeblich schon Pharao Psammetich I. und der Stauferkaiser Friedrich II. in ihren Kinderversuchen fanden. Auch dürfte der Terraforming-Prozess eines Planeten wie Andymon wohl etwas mehr Aufwand und deutlich mehr Zeit brauchen als die paar Jahre, die das Schiff im Orbit ist, um DIE Alge zu züchten, die die Atmosphäre des Planeten lebensfähig macht.
Aber wie gesagt: das ist für die Geschichte völlig unerheblich, da viel essentiellere Fragen gestellt und in eine wunderbare Umgebung gepackt werden, die sich vor heutiger Science Fiction weiß Gott nicht zu verstecken braucht: Zum einen geht es um jede Menge gesellschaftlicher Prozesse, die gelöst werden wollen – bis hin zu dem Problem der abgesonderten vierten Gurppe, die in einer Art selbst erschaffenem Borg-Kollektiv auf einem Andymon-Mond ein Über-Ich erschafft, dass dann vor lauter Einsamkeit buchstäblich „den Geist aufgibt“. Zum anderen aber auch um die Enwicklung des Protagonisten, der sich von der Kindheit an bis ins Alter in dieser Art extraterrestrischer Autobiografie reflektiert – und dabei einen tiefen Einblick in seine persönliche Entwicklung gibt.
Die ersten Skizzen für die Geschichte reichen in die 1970er Jahre zurück. Da sind einige technische Spielereien gut ins Blaue geraten worde, die heute schon Alltag sind: etwa der Video-Chat am Armband (na gut, wir brauchen dafür noch ein klobiges Telefon), ein Airbag im Kopter oder auch weitreichende genetische Experimente. Imposant ist eine weitere technische Errungenschaft an Bord des Schiffes, dass sich die Steinmüllers aber in Japan ausgeliehen haben: das Totaloskop. Diese Art von Holodekc geht zurück auf eine gleichnamige Erzählung des japanischen Schriftstellers Abe Kobo, die in der DDR in Klaus Walthers Anthologie Marsmenschen – Kosmische und kybernetische Abenteuer erschienen ist.
Und nicht nur die Steinmüllers haben viel geschrieben – auch hinterher wurde viel über die Steinmüllers geschrieben. Über die Art und Weise, wie sie ihre Gesellschaft auf Andymon aufbauen – und ob und wie das irgendwie im Zusammenhang mit der Gesellschaftsordnung steht, in der das Buch entstanden ist. Dazu kann ich nur eins sagen: es spricht schon Bände, dass der Roman auch nach der Wende erneut verlegt wurde – und es spricht viele Bände, dass der Roman auch nach der Wende noch so viele Leser findet.
Fazit
Spannend erzählt, viele Fragen aufwerfend und dabei nicht zu gesellschaftstheoretisch liest sich Andymon gut in einem Rutsch durch. Ich freue mich jedenfalls auf die Quasi-Nachfolgegeschichte „Pulaster“, die hier im Schrank steht.
Über das Buch Andymon
Ursprünglich 1982 erschienen beim Berliner Verlag Neues Leben habe ich die 4. Auflage von 1989 gelesen, die in der Basar-Reihe erschienen ist. Die reichlichen Illustrationen stammen von Schulz/Labowski (wie in Thomas K. Reichs Sinobara). Die ISBN dieser Ausgabe lautet 3-355-00272-0. Komplett von den Autoren überarbeitet erschien Andymon dann im Jahr 2004 beim Berliner Shayol Verlag als zweiter Band der Steinmüller-Werkausgabe.
Klappentext
Zu der von mir gelesenen Paperback-Basar-Ausgabe gibt es gar keinen klassischen Klappentext. Die Neuauflage aus dem Shayol-Verlag aber wird wie folgt beschrieben:
Als zweiter Band innerhalb der Steinmüller-Werkausgabe erscheint der wohl beliebteste Roman der DDR-SF in einer von den Autoren überarbeiteten Neuausgabe. In einem automatisch gesteuerten interstellaren Raumschiff werden – rund zwanzig Jahre vor der Ankunft auf dem Zielplaneten – aus tiefgefrorenen Eizellen Menschen geboren. Roboter ziehen die ‚Geschwister‘ groß und bereiten sie darauf vor, selbst die Kontrolle über das Raumschiff zu übernehmen. Als sie schließlich auf ‚Andymon‘ landen, trotzt die unwirtliche Einöde zunächst allen Hoffnungen. Nun gilt es, geduldig und behutsam mit Planetform-Techniken zu arbeiten.
Andymon ist eine klassische Utopie im besten Sinne. Die geradlinig erzählte Handlung mit den gelungenen Identifikationsfiguren, vor allem aber die Weite des Entwurfs – es geht um nichts Geringeres als die Gründung einer neuen Menschheit auf dem terraformierten Planeten, Lichtjahre von der Erde entfernt – stehen für eine dynamische soziale Vision.
Andymon im Netz
Sehr intensiv mit den Lese-Erlebnissen bei der Lektüre von Andymon setzt sich dieser Thread auf Scifinet auseinander. Auch bei Keimform.de gibt es eine interessante und lesenswerte Analyse des Romans. Auch bei FictionFantasy wird es rezensiert. Im Forum von SF-Fan.de geht es unter einer Rezension des Romans hoch – und damit auch interessant – her.
In Berlin trifft sich noch heute der SF-Club Andymon in Treptow.
Über die Autoren Angela und Karlheinz Steinmüller
Die Steinmüllers sind schon eine Wucht. Der eine ist diplomierter Physiker, hat seine Doktorarbeit aber in der Philosophie geschrieben. Die andere nach dem Abitur an der Abendschule Mathematik an der Berliner Humboldt-Uni studiert. Seit den frühen 1980er Jahren haben sich beide vollständig dem Schreiben zugewandt: und da geht es auch kreuz und quer. Neben gemeinsamen Science-Fiction-Erzählungen wie Andymon (welches von vielen Lesern zu einem der besten SF-Bücher der DDR gekürt wurde) und Pulaster gaben beide auch eigene Romane heraus, Kurzgeschichten und Geschichtensammlungen. Daneben aber auch immer wieder Sachbücher. Dr. Karlheinz Steinmüller ist außerdem wissenschaftlicher Direktor und Gründungsgesellschafter von „Z-punkt“, einem Beratungsunternehmen für strategische Zukunftsfragen.
Ein nettes Interview mit den beiden hat Jan Draeger für die Welt mit den Steinmüllers geführt.
Ich kann nur zustimmen – der Roman ist auch nach über 35 Jahren immer noch sehr lesbar. Das schaffen nicht viele Bücher …
Die Gesellschaft(en) auf Andymon habe ich übrigens (neben anderen) in meiner Dissertation analysiert, insbesondere die Verwendung utopischer und dystopischer Elemente darin. Gibt’s als eBook.
Die Dissertation steht auf der Liste der nächsten Neuanschaffungen. Ich grase auch regelmäßig die einschlägigen Portale ab, um eventuell noch eine gedruckte Ausgabe zu erwischen. Die würde sich sicher gut neben dem Lexikon von Simon und Spittel machen. 😉
Ich habe noch einige wenige Exemplare der gedruckten Fassung – schreib mir mal ne Mail (die „einschlägigen Portale“ rufen mitunter Phantasiepreise auf).
Danke für den Hinweis. Da geht man EINMAL nicht ans Buchregal… 😉
Mail schicke ich gleich mal raus. Dankeschön!