Die Augen der Blinden - Werner Steinberg - Schutzumschlag und Buchcover - Illustration: Klaus Ensikat

Die Augen der Blinden – Werner Steinberg

Drei Wissenschaftler gehen auf eine Forschungsreise in ein fernes Sonnensystem. Aber sie nehmen nicht nur ihre irdischen Probleme mit – sondern treffen auch auf der neuen Welt die Abgründe menschlicher, gesellschaftlicher Entwicklung. Um Die Augen der Blinden zu erschaffen, muss einer aus der Gruppe etwas Undenkbares tun.

Was Werner Steinberg in seinem Science-Fiction-Erstling verarbeitet, ist vor allem mal eine Dreiecksgeschichte zwischen dem lebenslustigen, phantasievollen Arzt Bronn Ziano, dessen fünfjährige Ehe mit der Biologin Aria Wann gerade automatisch endet (Goethes Wahlverwandschaften und Gabriele Pauli lassen grüßen). Bronn Ziano, der die Reise ins Lichtjahre entfernte Sonnensystem und seines Exoplaneten organisiert, überlässt Aria Wann die Auswahl eines dritten Reisegefährten – und die kann ihren Ex-Mann, den hochgelehrten, verstandesbetonten Professor Maru Sodal (der Terraforming auf der Venus betreibt) gewinnen.

Dreiecksbeziehung und ungewisse Zukunft

Während Simon und Spittel noch das „lange Hin und Her, das es dem Leser in einer zähen Exposition schwer macht“, monieren und den Roman auf seine Entscheidungssituationen reduzieren, ist doch gerade diese Exposition wichtig, um die folgenden Fragen in den richtigen Kontext zu rücken.

Aria Wann ist eine moderne Frau, in einer modernen Gesellschaft. Sie will sich nicht entscheiden für einen Lebenspartner, der nur eine Seite ihrer Persönlichkeit berührt.

Auf dem fernen Exoplaneten angekommen (natürlich nach Anabiose-Schlaf) ist das Trio erst einmal enttäuscht: der gesamte Planet ist von einer Perlmutt-Oberfläche überzogen. Leben scheint es hier nicht zu geben. Umkreist von einem unregelmäßig geformten, riesigen Mond und mit taumelnder Rotationsachse bemüht sich Steinberg, die Welt so exotisch wie möglich zu schildern.

Und wie in eine Zwiebel tauchen die Forscher immer tiefer in die Geheimnisse dieser fremden Welt ein. Zuerst finden sich an einem See, einem Meer, unter der Oberfläche seltsam geformte, kegelförmige Lebebewesen.

In einer Nebelwolke entdeckt das Trio dann eine weiterentwickelte Flora und Fauna – die fast zu ihrem Tod führt, als sich kegelförmige Insekten auf die Menschen stürzen, um ihre Augen auszusaugen. Nur mit Mühe gelingt die Flucht.

Und während sich bei den Untersuchungen die Entwicklungsstufe des gefundenen Lebens ständig erhöht, wird das Trio bei der Untersuchung des „Diamantenberges“ plötzlich gefangengenommen.

Erstkontakt mit den Pelzwesen

Der Erstkontakt mit den offenbar vernunftbegabten Wesen läuft alles andere als optimal. Aria Wann, die als erste die behaarten Wesen unter dem Berg trifft, schießt mit der Laserwaffe auf sie und wird überwältigt. Auch Bronn Ziano gerät mit den offensichtlich blinden, per Ultraschall kommunizierenden und dadurch auch „sehenden“ Wesen aneinander. Einzig der Professor hat einen ordentlichen Draht zu „Fiüht“, dem Haarwesen, dass zu ihrem Führer in der Welt unter dem Berg wird.

Deren feudalistische Gesellschaft von Pilzzüchtern wird von einem Despoten beherrscht, der absolut über das Kastensystem herrscht.

Seinen Höhepunkt erreicht der Roman in dem Moment, in dem der Herrscher seinen Befehl ausspricht, dass sich Aria Wann mit ihm zu paaren habe. Will er sehenden Nachwuchs mit der Menschenfrau zeugen? Oder will er einfach nur seinen absoluten Herrschaftsanspruch auch gegenüber den fremden Besuchern demonstrieren? Die Reaktionen Maru Sodals und Bronn Zianos jedenfalls sind diametral entgegengesetzt. Während Maru Sodal die Vergewaltigung nach Abwägen von Pro und Contra als notwendiges Übel betrachtet, verweigert Bronn Ziano kategorisch diese „Lösung“.

Doch am Ende kommt es alles anders als geplant. Und mit irdischer Hilfe kommen Die Augen der Blinden ans Tageslicht.

Leseprobe aus Die Augen der Blinden

Das monotone Summen der Aggregate, der aseptische Geruch der mattierten Metallwände, die makellose Schwärze des Alls – Aria Wann widersteht der Versuchung, einen flüchtigen Blick durch das Bullauge hinaus in die Unendlichkeit zu werfen, wo irgendwo unter diesem gewaltigen, rotierenden Startplateau, in dem sie sich befindet, der blaue Planet Erde schwimmt, auf dem sich zu dieser Stunde ihr Mann, Bronn Ziano, aufhält. Zwar ist er Leiter der kleinen Raumexpedition, die geplant ist, aber er hat es ihr überlassen, sich um den dritten Begleiter zu kümmern, und so sitzt sie jetzt in diesem kahlen Zimmer Fernand Görens gegenüber, der als Personalbeauftragter der Allflugbehörde bekanntzugeben hat, ob ihr Antrag genehmigt wurde, eine wichtige Entscheidung, wie ist sie ausgefallen? Er läßt sich Zeit, Görens, das monotone Summen, Aria Wann sieht ihn fünf Meter von sich entfernt in dem Quellsessel sitzen, der sich jeder Bewegung des Körpers geschmeidig anschmiegt, Görens indessen regt sich kaum, ein gelassener, in sich ruhender Mann in den besten Jahren, er hat die Achtzig kaum überschritten, denkt Aria Wann, nur die Linke liegt lässig auf der Tastatur des Computers, aus dem er den Bildschirm des Monitors schräg vor sich mit den letzten Angaben ihres Aktenstücks, nein, des Aktenstücks von Bronn Ziano, füttert; Aria Wann vermag die aufflimmernden Angaben aus der Entfernung freilich nicht zu lesen, sie fühlt sich gespannter, wie also mag die Entscheidung ausgefallen sein? Sie hat Professor Maru Sodal als Begleiter vorgeschlagen, den Gefährten ihrer ersten Ehe, den hervorragenden Computisten, der ihrer Expedition wie kein anderer dienlich sein könnte, daran zweifelt sie nicht, aber unbekannt ist ihr, ob er die entscheidenden Aufgaben, die ihm bei der Besiedlung der Venus zugefallen sind, so weit gelöst hat, daß er freigegeben werden kann. Als sie ihrem Mann den Namen Maru Sodal nannte, hatte er sic verblüfft angesehen und voll Mißbehagen gefragt: „Hältst du das wirklich für richtig? Eine solche Reise ist kein Experimentierfeld für erloschene Gefühle!“ Sie hatte beiseite geblickt und geantwortet: „Ich weiß nicht, ob sie erloschen sind, Bronn Ziano. Doch davon abgesehen, wirst du zugeben müssen, daß es ein großer Gewinn für uns wäre, wenn Maru Sodal uns begleiten dürfte; denn die reichen Erfahrungen, die er hat, werden uns helfen.

Fazit

Neben einer Menge zwischenmenschlicher Perspektive auf das Thema „Beziehungen in der Zukunft“ bietet Die Augen der Blinden auch einen Blick auf die Parallelen zwischen individuellen Beziehungen und gesellschaftlicher Ordnung – in Vergangenheit und Zukunft. Witzig beim Lesen: Bronn Ziano macht vor dem Abflug noch einen Abstecher ins irdische Dessau, wo ein Vorfahr von ihm als Schriftsteller lebte. Gerade vor wenigen Tagen habe ich erfahren, dass ein von mir sehr geschätzter Kollege, der auch in Dessau lebt und arbeitet, der Sohn des Autors Werner Steinberg ist. Ebenfalls zum Großteil unter Tage abgespielt hat sich übrigens Aktion Erde von Peter Lorenz.

Über das Buch Die Augen der Blinden

Die Augen der Blinden - Werner Steinberg - Schutzumschlag und Buchcover - Illustration: Klaus Ensikat
Die Augen der Blinden – Werner Steinberg – Schutzumschlag und Buchcover – Illustration: Klaus Ensikat

Werner Steinbergs Erstling im Science-Fiction-Fach erschien 1973 im Verlag Das Neue Berlin. Meine zweite Ausgabe folgte ein Jahr später – und ist falsch herum im Einband befestigt. Sieglinde Jörn zeichnete für das Lektorat verantwortlich, die Illustrationen auf dem Schutzumschlag und dem Buchcover steuert Klaus Ensikat bei. Die 357 Seiten wurden dem Endverbraucher für 8,30 Mark verkauft. 1981 wurde Die Augen der Blinden als Paperback in der Reihe SF Utopia noch einmal verlegt.

Klappentext zu Die Augen der Blinden

Drei Menschen, eine Biologin, ein Arzt, ein Computerwissenschaftler, sind ausgezogen auf Erkundungsfahrt ins All, weil sie hoffen, unter außergewöhnlichen Bedingungen, frei von den Bindungen des Erdendaseins, Antwort auf ungelöste Fragen ihres Zusammenlebens zu finden; denn beide Männer begehren die Frau, und diese vermochte die Entscheidung bisher nicht zu fällen.
Jahre nachdem sie den blauen Planeten verlassen haben, landen die Drei auf dem Dunkelstern Phi, einem bizarren, kristallenen Himmelskörper, wo unter der Herrschaft des Hierarchen Ssajanohs vernunftbegabte Pelzwesen leben. Im Spannungsfeld zwischen dem Hierarchen, der sie erpreßt, ihm zu Willen zu sein, zwischen dem Wissenschaftler, dessen vernunftgesteuerte Aktivität sie fasziniert, und dem Arzt, der im kreatürlichen Lebensgenuß seine eigentliche Daseinsform erblickt, muß die junge Aria Wann sich entscheiden.
Die Begegnung zwischen Mensch und Dunkelsternwesen macht
transparent, daß die Zukunft alle Möglichkeiten für die Entwicklung vielfältiger menschlicher Verhaltensweisen bietet und daß gerade die Vielfalt die moralischen und ethischen Qualitäten des einzelnen zu einem entscheidenden Prüfstein bei der Partnerwahl macht.

Über den Autor Werner Steinberg

Werner Steinberg wurde am 18. April 1913 im schlesischen Neurode geboren. Im heutigen südlichen Polen wuchs er auf, studierte Pädagogik und wurde unter den Faschisten 1934 verhaftet und zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er einer Widerstandsgruppe angehört haben soll. Kontorist, Verlagsbuchhändler, Herausgeber und Journalist sind weitere Stationen seines beruflichen Weges. Nach dem Krieg lebt er erst in Schwaben, später in Düsseldorf. Mit dem Verbot der KPD in Westdeutschland geht er 1956 als freischaffender Schriftsteller in die DDR. Dort gab es dann in den 1970er Jahren Komplikationen mit der Staatsführung. Er schreibt einen großen Roman-Zyklus über das Leben in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, einige Krimis und mindestens zwei Science-Fiction-Romane: Die Augen der Blinden und Zwischen Sarg und Ararat.

Mit der politischen Wende kommen auch Probleme auf Steinberg zu. 1992 erleidet er einen Schlaganfall und stirbt am 25. April 1992 in Dessau.

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