Peter Lorenz – Blinde Passagiere im Raum 100

Wer bei Science Fiction an ein bestimmtes Literatur-Genre denkt, ist schief gewickelt. Viel zu bunt ist das weite Feld der Ausprägungen. Vom „Western im Weltall“ (die alten Star-Trek-Geschichten), über reine technische Abenteuerromane (Hans Dominik) bis hin zu düsteren Thrillern und LSD-Trips á la Arne Sjöberg kann „Wissenschaftsfiktion“ in jeder Ebene funktionieren. Mit „Blinde Passagiere im Raum 100“ geht Peter Lorenz in die Welt der Fabeln – und wagt sich an unbequeme Themen, die 1986 sicher nicht ganz einfach zu beschreiben und bewerten waren in der alten DDR.

Al Hallerström, der als „Weltraumklempner“ in seiner geostationären Kiste defekte Satelliten repariert, soll einen ausgefallenen TV-Satelliten reparieren, der mitten im Supercup-Fußballspiel den Dienst versagt. Doch der Satellit ist weg – und dafür eine außerirdische Intelligenz, die manifestiert als Kugeln die Menschen mit ihren tiefsten psychischen Abgründen – dem „Stachel im Fleisch“, wie Hallerström sagt – konfrontiert.

Die Menschheit wäre nicht die Menschheit, wenn sie nicht umgehend eine Expedition ausrüsten würde, um der Sache auf den Grund zu gehen. Und von der sozialistischen Weltraumwerft auf dem Mond geht es schon bald los.

Weil ein Fernsehsatellit ausfällt, stößt Hallerström auf die Außerirdischen
Weil ein Fernsehsatellit ausfällt, stößt Hallerström auf die Außerirdischen

Der kalte Krieg zieht sich als Riss durch die Welt. Aber dennoch drängt Raumschiff-Kommandant Al Hallerström, dem Klassenfeind Charles Wordman (den man auf die Reise mitnehmen muss, weil nur die Amerikaner über die nötige Antriebstechnik für das Schiff verfügen) nicht ständig zu misstrauen: „Das ist unfair. Auch ein Wordman muss seine Chance haben.“ – Der führt sich dennoch wie ein Cowboy auf – und haut der jungen Kosmonautin, die in seinen Daten schnüffelt, erst einmal ein blaues Auge.

Aber ist das Vertrauen gerechtfertigt? Was führt der Amerikaner im Schilde? Und was plant die Außerirdische Intelligenz in Gestalt von Hallerströms Ex und deren gemeinsamem Sohn? Und welche Rolle spielt das Baby, das an Bord der „Hirundo“ gezeugt und geboren wird?

Schlußendlich kulminiert – wie bei Arne Sjöberg – die Frage nach dem Anfang und Ende der Menschlichkeit in Kontakt mit den Außerirdischen ins Zentrum des Buches. Und eins kann verraten werden: der menschlichste Akt an Bord wird am Ende – also wirklich: GANZ am Ende – das Kommando übernehmen.

Stasi-Besuch und Staatsverleumdung

Umweltverschmutzung und Pharmaskandale
Umweltverschmutzung und Pharmaskandale sind nur zwei Themen, für die Lorenz die „Blinden Passagiere im Raum 100“ als Fabel nutzt.

Weiten Raum nimmt das Tabu-Thema Umweltverschmutzung im Buch ein. Die Bordärztin plagt sich mit einem Gewissens- und Familienkonflikt, der in seiner Rahmenhandlung verdächtig an den Contergan-Skandal in der Bundesrepublik erinnert. Jeder an Bord hat sein Päckchen zu tragen.

Ich selbst kann mich noch gut daran erinnern, wie die Elbe vor der Wende ausgesehen hat. Peter Lorenz lässt Guy Neumann im Raum 100 auf den Fluss Elaat treffen, den er auf der Erde hätte – gegen den Willen der volkseignenen Industrie natürlich – renaturieren sollen. Im ursprünglichen Manuskript soll der Strom noch Elaas („Saale“ rückwärts) geheißen haben – und Lorenz einen Besuch von der Stasi eingebracht haben (so beschreiben es Peter Brockmeier und Gerhard R. Kaiser in ihrem Buch „Zensur und Selbstzensur in der Literatur“ (Königshausen & Neumann, 1996) auf Seite 287.

Damit kannte sich Lorenz schon aus, war er doch 1966 wegen Staatsverleumdung zu zwei Jahren hinter schwedischen Gardinen verurteilt worden. „Es hing wie so oft mit der Biermann-Affäre zusammen; er hatte als relativ kleines Licht das Pech, daß ein DDR-Verantwortungsträger diesen Umstand als für seine eigene Karriere lohnendes Opfer ansah – so zumindest die Sichtweise des Betroffenen“, schreibt Thomas Hofmann im Zusammenhang mit einem Abend mit Peter Lorenz bei den Leipziger Science-Fiction-Freunden 1996.

Zehn Jahre später ist Lorenz offenbar wieder gesellschaftsfähig. Mit seinem ersten Roman „Homunkuli“ erhält er den Debütantenpreis des Ministeriums für Kultur der DDR. Mit „Quarantäne im Kosmos“ (1981) und „Aktion Erde“ (1988) erscheinen insgesamt vier Romane von Lorenz in der DDR. Am 20. November 2009 stirbt der Schriftsteller und Fotograf und wird in aller Stille beigesetzt.

Fazit

„Nebenbei“ liest man „Blinde Passagiere im Raum 100“ nicht. Die Gefahr ist zu groß, es verwirrt zur Seite zu legen. Wer sich aber auf Lorenz’ Gedankenexperimente einlässt, erhält eine unterhaltsame Parabel auf den Endzustand der sozialistischen Gesellschaft kurz vor dem Zusammenbruch.

„Blinde Passagiere im Raum 100“ ist 1986 im Verlag Neues Leben Berlin erschienen. Unter der ISBN 3354001305 findet man es in den einschlägigen Archiven.

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