Wollen wir in diese Buchrezension zu Es begann in Tanger mal mit den Pluspunkten einsteigen: Innes kann wunderbar mit der Schreibmaschine Landschaften malen. In einer sturmtosenden Nacht beginnt unsere Geschichte in einer echt miesen Kaschemme, einer Hafenkneipe in der internationalen Zone Marokkos, der Hafenstadt Tanger. Hier geben sich Film-Größen und Unterwelt-Barone, Drogenjunkies, Schmuggler und Nutten die Ehre. Und unter ihnen ist der Ich-Erzähler Latham, der auf einen seltsamen Reisenden wartet.
Selbst früher einmal Schmuggler gewesen, hat sich Latham mittlerweile zum Missionar gewandelt. In den Bergen des Atlasgebirges will er den Berbern helfen – und braucht dazu einen Arzt, den er in dem tschechischen Flüchtling Dr. Kavan gefunden zu haben glaubt, der sich auf seine Annonce hin meldet. Seltsamerweise reist Kavan als einziger Passagier einer Segelyacht an, die vor der Küste Tangers scheitert. Vom Yachteigner fehlt jede Spur. Dafür interessieren sich neben Latham noch andere für die Besatzung des Bootes: der Grieche Kostos aus der Unterwelt von Tanger genau wie Kavans Frau und Ali d’Es-Shkira, ein aufrührerischer Nationalist. Ein Versteckspiel sondersgleichen beginnt, um von Tanger über die Grenzen der marokkanischen Protektorate der Franzosen und Spanier in die Mission zu gelangen. Nicht immer geht es dabei logisch zu.
Das bringt mich auch schon zu dem großen Manko von Es begann in Tanger: Was eigentlich eine rasante Verfolgungsjagd zwischen den Hauptpersonen quer durch ein zugegeben extrem gut und farbenprächtig geschildertes Land hätte gelingen können, entpuppt sich über weite Strecken als langatmige Aufdröselung von Lügengespinsten und Halbwahrheiten, um entweder die Behörden oder die Verfolger oder beide oder am Ende das Protagonisten-Duo selbst zu täuschen.
Zum Kern der Geschichte kristallisiert sich nach einem Erdrutsch an Lathams Missionsstation ein kleiner Flecken Land am Südrand des Atlas heraus. Dort soll an einer alten Kasbah eine Silbermine liegen, die ebenfalls nach einem Erdrutsch verschüttet wurde.
Vor Ort eingetroffen erwarten die beiden Protagonisten bereits Kostos und der Berber-Aufrührer. Und ein amerikanischer Ingenieue: Ed White. Als bei einem Angriff des wütenden Berbermobs auf das Silberminen-Camp Kostos in die Enge getrieben wird, zündet dieser eine Dynamitstange: eine Bergflanke löst sich und begräbt den Griechen und Dutzende Berber unter sich. Latham und Kavan machen sich mit ihren Frauen über Nacht ins Gebirge aus dem Staub – nur, um am nächsten Morgen (warum auch immer?!) in das Dorf zurückzukehren, wo sich erneut ein Mob formiert, der sie lynchen will. Die französische Armee in Form eines einzelnen Offiziers eilt in Karl-May-hafter Attacke zu Hilfe – der Rest der Truppen ist ja in Indochina. Und am Schluss zahlt sogar noch die Versicherung für das untergegangene Boot in Tanger. Friede, Freude, Eierkuchen.
Fazit
Nicht sehr anspruchsvolle Geschichte, die stellenweise sehr konstruiert ist. Die Hauptcharaktere bleiben sehr farblos, viele Entscheidungen sind unlogisch – ABER: in eine interessante Rahmenhandlung gepackt bringt Es begann in Tanger dem Leser die Zustände nahe, die in einem gespaltenen, wunderschönen, wilden Land Anfang der 1950er Jahre geherrscht haben könnten.
Leseprobe
Dr. Jan Kavan und Latham kommen in Marrakesch an. Die folgende Szene entspinnt sich auf dem Djema el Fna, dem Platz der Geköpften:
Ich war jetzt daran gewöhnt, aber ich erinnerte mich noch, wie sehr es mich zuerst beeindruckt hatte. Dort unten lärmten Tausende von Menschen – Leute aus dem Süden Marokkos, aus der Wüste, den Palmenpflanzungen und des abgelegensten Dörfern des Atlas. Sie bildeten Gruppen um die Märchenerzähler, Schlangenbeschwörer und Tanztruppen oder gingen Hand in Hand zwischen den Buden der Ärzte, Barbiere und Briefschreiber. Zwischen ihnen liefen die Wasserjungen hin und her. Sie waren mit Messingbechern beladen, und ihre Glocken klangen unaufhörlich und durchdringend. Es war ein immerfort wechselndes Farbmuster, von dem ein merkwürdiges Gewirr von Geräuschen aufstieg. Den Lärm der Menge übertönte das pausenlose Hämmern der Tam-Tams, rhythmisch, dringend, monoton. Derselbe Ton, der wie ein Pulsschlag die Berge und Täler des Südens durchdringt.
„Es ist herrlich!“ flüsterte Jan. „Herrlich! Karen wird begeistert sein.“
Ich lachte. „Der romantische Schimmer verblasst rasch“, sagte ich, „wenn Sie entdekcen, wieviel Armut, Krankheit und verheerende Faulheit dahinterliegen. Dies ist das Reich von Tausendundeiner Nacht, die Stadt der Träume, das ersehnte Ziel nach der Arbeit eines Jahres in dem kahlen grausamen Land. Der Ort ist völlig von Geschlechtskrankheiten, Tuberkulose und Augenkrankheiten verseucht. Er ist mit Schwären bedeckt wie Hiob.“
historische Einordnung
Zehn Jahre vor der Romanhandlung empfängt der amerikanische Präsident im Anfa-Hotel in Casablanca den Araber Sidi Mohammed V. ben Mulai Jussef. Beim Essen versichert der Amerikaner den Marokkaner des Endes der kolonialen Ausbeutung. Ein Freibrief für den keimenden Nationalismus des nordwestafrikanischen Landes. Mit der Partei „Istiqlal“ baut Mohammed die Zukunft seines Landes auf – ohne Frankreich. Er avanciert zum weltlichen und religiösen Führer der Marokkaner. Der Lohn der Amerikaner: Militärbasen in dem strategisch günstig gelegenen Land.
Innerhalb von zehn Jahren verspielt die „Istiqlal“ den Kredit in Übersee – die Amerikaner orientieren sich in Richtung Tunesien, die Franzosen haben freie Hand in Marokko. Außerdem ist Mohammed dem Berberfürsten und Pascha von Marrakesch Hadsch Tuhami el-Mezwari el-Glaui ein Dorn im Auge. Vor dem Königspalast fahren am 20 August 1953 französische Panzer auf. Mohammed setzt sich mit Familie nach Korsika ab, später nach Madagaskar. In Marrakesch wählen die Berber den Onkel Mohammeds zum neuen Imam (religiösen Führer), seine weltliche Macht als Sherif existiert eh nur auf dem Papier – die französische Schutzmacht in Person von General Guillaume gibt hier den Ton an. In einem letzten Aufbäumen der „Istiqlal“ richten Anhänger Mohammeds in ganz Marokko Blutbäder unter französischen Familien an.
Mehr Informationen über diese turbulente Zeit liefert der damalige Spiegel und auch Die Zeit.
Nur ein paar Monate bleibt dieser Zustand erhalten – dann kehrte Mohammed V. im November 1955 wieder zurück auf den Thron in Rabat. Im Folgejahr beginnen die Verhandlungen über die Unabhängigkeit mit Spanien und Frankreich. Auch die Geschichte der internationalen Zone in Tanger, die – mit einem kurzen spanischen Intermezzo während des Zweiten Weltkrieges – seit 1923 bestand, endet 1956. Mohammed V. wird bis zu seinem Tod 1961 herrschen und von Hassan II. abgelöst.
Über das Buch Es begann in Tanger
Es begann in Tanger ist 1954 unter dem Originaltitel The Strange Land bei Collins, London, erschienen. Die mir vorliegende Ausgabe wurde 1958 im Bertelsmann Lesering herausgebracht und umfasst 316 Seiten mit einem kurzen Glossar am Ende. Die Originalrechte lagen beim Hans Günther Verlag Stuttgart. Übersetzt wurde das Buch von Eva Zahn, Stuttgart. Gegliedert ist der Roman in die drei Teile Internationale Zone, Die Mission und In der Gefahrenzone.
Eine sehr intensive Auseinandersetzung mit dem Buch gibt es bei Books&Boots. In etwa der gleichen Zeit spielt die Geschichte des Jugendbuches Marrokanisches Abenteuer.
Über den Autor Hammond Innes
Ralph Hammond Innes wird 1913 in Sussex/Großbritannien als Einzelkind schottischer Vorfahren geboren und ist erst Lehrer, später Reiseschriftsteller.
Von 1934 bis 1940 arbeitet er als Journalist für den Vorläufer der Financial Times. 1937 heiratet er Dorothy Mary Lange, die 1989 stirbt. Die Ehe bleibt kinderlos. Im gleichen Jahr erscheint sein erster Roman The Doppelganger.
Von 1940 bis 1946 dient er als Artillerist in der Armee, aus der er als Major entlassen wird. Bis 1953 schrieb er Kinderbücher unter dem Pseudonym Ralph Hammond.
Dabei glänzt er in seinen Abenteuerromanen vor allem durch starke Beschreibungen der Länder und Landschaften, die eine große Rolle in seinen Geschichten spielen. Seit den 1960er Jahren hat er die Schauplätze seiner Bücher vor dem Schreiben zur Recherche wenigstens sechs Monate selbst bereist, anschließend ein halbes Jahr geschrieben. Sein letztes Buch Delta Connection erscheint 1996 und wird damit die Nummer 35 in der Veröffentlichungsübersicht des Briten. Zwei Jahre später stirbt der Commander des Order of the British Empire (1978 verliehen) Hammond Innes in Kersey.
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