Die Stimme des Herrn - Stanislaw Lem - Buchcover

Die Stimme des Herrn – Stanisław Lem

Forscher auf der Erde empfangen eine Neutrino-Strahlung, die offenbar ein Signal enthält. Handelt es sich um die Kontaktaufnahme einer fremden Zivilisation mit der Menschheit? Die Stimme des Herrn von Stanisław Lem beschäftigt sich mit der Entzifferung dieses Signals – und geht noch viel, viel weiter.

Denn nicht nur mit den rein wissenschaftlich-technischen Details der Untersuchungen in der Wüste von Arizona beschäftigt sich Lem, der die Geschichte in die Autobiographie des Mathematikers Peter E. Hogarth verpackt. Er lässt seinen Mathematiker ganz tief in die Philosophenkiste hinabsteigen und hinterfragt, ob wir als Menschheit überhaupt schon bereit seien für eine interstellare Verbindungsaufnahme.

Dabei geizt er nicht mit literarischen Tricks: Ist es ein Vor- oder Nachwort? Der Protagonist nimmt uns mit in eine Betrachtung seiner eigenen Biographie, seiner Entwicklung, in der er nicht gerade schmeichelhaft mit sich selbst ins Gericht geht. Bosheit habe ihn angetrieben, so zum Beispiel, als er neben dem Sterbebett seiner Mutter Grimassen geschnitten habe. Harter Tobak, viel Philosophie…

Und mir fällt dabei immer wieder auf, dass ich meine Gedanken abschweifen lasse, wenn Lem zu Hochtouren aufdreht. Und während ich lese, entdecke ich ständig neue Fragestellungen, Assoziationen und Erkenntnisse, die auf das Leben auf unserer kleinen blauen Kugel im All anwenden lassen. So sieht es einmal kurz sogar so aus, als habe Lem eine Vorhersage der Coronaleugner zu Papier gebracht:

„Das erinnert an das Verhältnis, das der Physiker und das der gebildete Leser populärwissenschaftlicher Bücher zur Gravitation oder zu den Elektronen haben. Dieser bildet sich ein, er verstünde etwas von Dingen, die der Experte nicht einmal beim Namen zu nennen wagt. Die Information aus zweiter Hand nimmt sich immer gut aus, ım Unterschied zu jener lückenhaften und ungesicherten, die dem Wissenschaftler zu Gebote steht. Besagte Interpreten des Projekts zwängen ihre Kenntnisse in der Regel in das Korsett ihrer Anschauungen und schnippeln, was dort nicht hineinpaßt, kurz und schmerzlos weg. (…) Die Wissenschaft ist seit eh und je vom Dunstkreis einer aus allen möglichen unausgegorenen Köpfen emporbrodelnden Pseudowissenschaft umgeben gewesen (…)

Die Stimme des Herrn, Seite 30

Dabei hat die Geschichte hinter Die Stimme des Herrn sogar eine Vorgeschichte in der realen Welt. Seit 1960 nämlich lauscht das SETI-Projekt (allerdings auf elektromagnetischem und neuerdings sogar auf optischem Feld) ins All in der Hoffnung, Signale aus dem Kosmos zu entdecken. Später wird sich sogar ein kleiner Wissenschaftskrimi entwickeln, als ein Scharlatan sich die Bänder besorgt.

Aber bei allem Interesse an der Kern-Fragestellung des Buches bleibt es enorm harter Tobak in der Lektüre. Und das gibt Lem sogar unumwunden zu, als er seinem Professor Hogarth die Worte in den Mund legt:

„Dem Leser, der sich bis zu dieser Stelle durchgekämpft hat und immer ungeduldiger darauf wartet, in das Wesen des berühmten Rätsels eingeführt zu werden, weil er sich erhofft, daß ich ihm ebensolche Wonneschauer über den Rücken jagen werde, wie er sie aus Filmen kennt, die ihm das Blut in den Adern erstarren lassen, möchte ich raten, mein Buch wegzulegen, weil er enttäuscht werden wird. Ich schreibe keine Sensationsstory, sondern ich berichte, auf welche Weise unsere Kultur auf kosmische, durchaus nicht auf irdische Universalität geprüft wurde und was dabei herauskam.“

Die Stimme des Herrn, Seite 45

Zwei interessante Entdeckungen macht das Heer von Wissenschaftlern, die in einer ehemaligen Atomtest-Anlage in Arizona forschen: „Froschlaich“ und „Herr der Fliegen“. Dabei ist den Forschern durchaus bewusst, dass sie nur Bruchstücke der Übertragung in Händen halten – und nicht ihren Kontext kennen. Aber verflixt nochmal: Wie nimmt eine außerirdische Zivilisation denn Kontakt auf? Wenn Urmenschen auf eine Bibliothek gestossen wären, was hätten sie davon mehr nutzen können als das Papier für ein Lagerfeuer?

Prompt finden die Wissenschaftler eine Möglichkeit, Nuklearexplosion an eine andere Stelle zu „projezieren“. Ist das das Ende der Welt?

Leser, bedenke: Lem schreibt Die Stimme des Herrn mitten im Kalten Krieg! Und: Science Fiction, so schreibt er 1970 im Essay „Phantasie und Futurologie“, habe die Aufgabe „Auskunft zu geben über den Endzweck der technologischen Entwicklung“, sie müsse „literarische Erkundung“ sein. Das schafft Die Stimme des Herrn jedenfalls prima.

Fazit

Die Stimme des Herrn ist ein hochgradig komplexes Werk, streckenweise aber auch ein zu sehr gekünstelter Versuch, Moralphilosophie unter dem (legitimen) Deckmantel eines Erstkontakt-Szenarios zu erzählen. Über die Art und Weise der literarischen Umsetzung lässt sich streiten – ich musste mich aber ganz ordentlich durchbeissen, um das Buch nicht mittendrin wegzulegen.

Über das Buch Die Stimme des Herrn

Die Stimme des Herrn - Stanislaw Lem - Buchcover
Die Stimme des Herrn – Stanislaw Lem – Buchcover

Das leinengebundene und mit einem einem Schutzumschlag versehene Hardcover, dass ich lesen durfte, erschien 1981 in erster Auflage im Verlag Volk und Welt Berlin. Im Original hieß das Buch „Głos Pana“ und erschien 1968 bei Czytelnik in Warschau. Die Übersetzung aus dem Polnischen lieferte Roswitha Buschmann. Das Büchlein umfasst insgesamt 261 Seiten.

Die Stimme des Herrn im Internet

Es gibt wenige Rezensionen in der deutschsprachigen Blogosphäre. Dafür bin ich bei meinen Recherchen auf den ungarischen Filmemacher György Pálfi gestoßen, der seinen schwer kategorisierbaren Film „His Master’s Voice“ („Az úr hangja“) beim slash Filmfestival 2019 vorgestellt hat.

Über den Autor Stanisław Lem

Der Arztsohn Stanisław Herman Lem wurde am 12. September 1921 in Lemberg geboren. Er begann 1940 ein Studium der Medizin, dass er nach dem Überfall Nazi-Deutschlands abbrach. Mit falschen Papieren verschleierte er seine jüdischen Wurzeln. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs versucht er noch zwei Mal, sein Studium fortzusetzen und macht erste literarische Gehversuche. 1951 erscheint sein erster Roman „Astronauten“/„Der Planet des Todes“. Er schließt sein Studium ab, fällt aber in der letzten Prüfung absichtlich durch. 1953 heirat Lem. 1982 verlässt er ein Polen, in dem Kriegsrecht ausgerufen wurde und geht nach West-Berlin und Wien. 1988 kehrt er zurück.

Seine Werke wurden in 57 Sprachen übersetzt und mindestens 45 Millionen verkauft. Am 27. März 2006 stirbt Lem in Krakau.

„Verlage, die mich in einer mit Science Fiction etikettierten Schublade eingeschlossen haben, taten dies hauptsächlich aus merkantilen und kommerziellen Gründen, denn ich war ein hausbackener und heimwerkelnder Philosoph, der die künftigen technischen Werke der menschlichen Zivilisation vorauszuerkennen versuchte, bis an die Grenzen des von mir genannten Begriffshorizontes.“

Lem in Riskante Konzepte

Ein Kommentar

  1. Hallo! Ich bin über die Strugazki Bücher hier gelandet und habe direkt mal meine Leseliste um einiges erweitert, danke! Außerdem hab ich mich gefragt, ob man den Film irgendwo schauen kann… Das sieht interessant aus.

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