Dr. Dr. Otto Rasch. Foto: Public Domain

Ronny Kabus – Juden der Lutherstadt Wittenberg im III. Reich

Es muss ein kalter Juni im Jahr 1935 gewesen sein. Der Wetterbericht im „Wittenberger Tageblatt“ schreibt von „über dem Reich liegenden polaren Luftmassen“. In der Lokalzeitung wird zudem ein neuer Oberbürgermeister im Amt begrüßt – Dr. Dr. Otto Rasch: gebürtiger Ostpreuße, Verwaltungsfachmann, Jurist, verhinderter Marine-Offizier.

Und Jahre später einer der größten Massenmörder des Zweiten Weltkrieges. Sein Amtsvorgänger, Regierungsassessor Dengler, wird mit einem gemütlichen Abend im Freitagsklubzimmer von „Balzers Festsälen“ verabschiedet. Ein Karrieremensch Rasch will „mit heißem Herzen an die ihm hier zufallenden Aufgaben herangehen“. Der am 7. Dezember 1891 in Friedrichsruh (heute Teil der russischen Exklave Kaliningrad) geborene Politikwissenschaftler und Jurist ist ein Karrieremensch. Vor dem ersten Weltkrieg hatte er sich in die Grundlagen der Verwaltung eingearbeitet, arbeitete dann als Privatsekretär bei einem Grafen.

Im Krieg wird er Freiwilliger bei der kaiserlichen Marine, Torpedowaffe. Verschiedene Einsätze bringen ihm ein Eisernes Kreuz, das Hamburgische Hanseatenkreuz und die Dienstauszeichnung 1. Klasse ein. Eine Karriere als Offizier scheitert daran, dass er kein Abitur hat. Das holt Rasch 1919 nach – da ist der Krieg vorbei. Die Heeresverminderung versperrt ihm den Weg in die weitere Militärkarriere – also beginnt er in Kiel, Halle und Leipzig Philosophie, Jura und Wirtschaftswissenschaften zu studieren.

Er promoviert 1922 über Wohnungspolitik in England und 1923 in einer zweiten Doktorarbeit über die verfassungsrechtliche Stellung des preußischen Landtagspräsidenten. In den Wirren der frühen Zwanziger Jahre sympathisiert er mit den Nazis, tritt aber erst 1931 der NSDAP bei. Im Sommer 1933 wird Rasch Bürgermeister von Radeberg.

Er ist außerdem Bezirksleiter des Nachrichtendienstes der SS – ein Karriere-Baustein, der ihm später nützlich wird. Am ersten Juni-Wochenende 1935 übernimmt dieser Intellektuelle auf Vorschlag von NSDAP-Kreisleiter Otto Heidenreich das Oberbürgermeisteramt in Wittenberg. Zur Amtseinführung am 21. Juni wird die „Egmont-Ouvertüre“ gespielt, Gauamtsleiter und Kreisleiter überbringen Willkommensgrüße und wünschen dem Neuling, dass er der Stadt recht lange erhalten bleiben soll.

„Mein Ziel ist das Gemeinwohl! Mein Weg heißt: eiserne Pflichterfüllung!“, ruft er dem Stadtrat zu. Da liegt ein schlimmes Unglück gerade eine Woche zurück – die größte Explosion in der damals 40-jährigen Geschichte der Wasag-Werke am 13. Juni 1935. Über 100 Tote, ebenso viele Schwerverletzte, 300 Leichtverletzte und große Schäden an den Gebäuden der Stadt waren die Folge. Ein Schaden von 32 Millionen Reichsmark entstand.

Eine Verhaftungswelle der Gestapo sollte die Saboteure überführen – dabei war mit großer Wahrscheinlichkeit ein Zufall Ursache des Unglücks. Rasch kondoliert, die Beseitigung der Schäden an städtischen Gebäuden verschlingt viel Geld. Viel Geld geht auch beim Neubau eines „Einfamilienhauses mit Hausmeisterwohnung“ in der Hauptmann-Berthold-Straße 38 (heute Breitscheidstraße) drauf – die neue Dienstvilla des Oberbürgermeisters. Haushalterischer Wert des Neubaus: 60.000 Reichsmark, Jahresmiete 1.485 Reichsmark.

Gerüchten zufolge fallen finanzielle Eskapaden Rasch auf die Füße. Im Frühjahr 1936 nimmt er eine längere Auszeit aus „gesundheitlichen Gründen“. Sang- und klanglos abgelöst Am 24. April 1936 erscheint er bei einer Ratsherrentagung wieder auf der Bildfläche – und wird Ende Mai sang- und klanglos vom Amt abgelöst. „Der Oberpräsident von Ulrich in Magdeburg hat im Einverständnis mit Gauleiter Jordan die Berufung von Dr. Dr. Rasch als Oberbürgermeister der Lutherstadt Wittenberg zurückgenommen“, heißt es lapidar in einer Meldung des Wittenberger Tageblatts am 2. Juni. Kein Dank. Kein Abschied. Landrat Holtz übernimmt kommissarisch.

Für Rasch kein großer Karriereknick – der damals 45-Jährige besinnt sich auf seine alten Verbindungen in der „Schutzstaffel“ und im Sicherheitsdienst (SD). Als Gestapo-Chef in Frankfurt am Main und in Oberösterreich bewährt er sich, Anfang 1939 trifft man ihn als SD-Chef in Prag wieder. Anschließend folgt eine ähnliche Verwendung in Königsberg. Am 31. August 1939 leitete Rasch den Überfall auf das Forsthaus Pitschen – Teil des fingierten Überfalls auf den Sender Gleiwitz, der den Nazis die Ausrede für den Überfall auf Polen lieferte.

Zumindest 1941 gibt er noch einmal ein kurzes Gastspiel in der Region. Zwischen Mai und Juni 1941 sammeln sich in Pretzsch an der Elbe Mannschaften und Offiziere des Reichssicherheitshauptamts, die hinter der Wehrmacht nach Osten vorrücken sollen – um in einem beispiellosen Akt menschlicher Verirrung Sowjetfunktionäre und die „jüdische Intelligenz“ der Sowjetunion zu vernichten. Sogar Reinhard Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamts, kommt nach Pretzsch.

Die Geburtsstunde der „Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD“ ist Teil der letzten Vorbereitungen zur „Operation Barbarossa“, dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Heinz Höhne formulierte in seinem Buch „Der Orden unter dem Totenkopf“: „3.000 Männer jagten Rußlands 5 Millionen Juden“. An der drei Jahre zuvor gegründeten „SS-Grenzpolizeischule Pretzsch“ taucht Rasch als einer der Mord-Befehlshaber auf.

Der SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei folgt wenig später mit seiner rund 700 Mann starken Truppe der 6. Armee und der Heeresgruppe Süd auf ihrem Weg durch die Ukraine. Bis Oktober bleibt er Anführer der Schlächter, die in vier Sonderkommandos unter seinem Befehl vagen Berechnungen zufolge 80.000 Menschen umbringen. In seinen Verantwortungsbereich fällt auch das Massaker von Babij Jar, das nach dem Einmarsch von 6. Armee und Heeresgruppe C der SS in Kiew stattfand.

Obwohl die jüdische Bevölkerung der Stadt zum großen Teil geflohen war, blieben etwa 50.000 Personen zurück, vorwiegend ältere Männer, Frauen und Kinder.

33.771 Menschen erschossen

Als Vergeltung nach Explosionen und Bränden im Stadtzentrum werden 33.771 Juden vor den Toren Kiews erschossen. Da war Rasch wahrscheinlich schon nicht mehr vor Ort. Er hatte laut Ronny Kabus, dem ehemaligen Leiter der Lutherhalle, zu dieser Zeit bereits um seine Abberufung als Einsatzgruppenleiter gebeten. „Er tendierte bei der Endlösung der Judenfrage eher zu einer formaljuristisch korrekten Umsetzung als zu brutalen exzessiven Mordaktionen“, sagt der Historiker. Rasch, der nach seinem Ost-Einsatz als Direktor der „Kontinentale Öl“ wieder in die Zivilwelt zurückkehrte, wurde nach Kriegsende verhaftet. Am 5. Februar 1948 schied er wegen einer Parkinson-Erkrankung bei den Nürnberger Prozessen aus und starb am 1. November 1948 in der Haft.

Dritte Auflage

Ronny Kabus mit Stefan Rhein und Reiner Haseloff. Foto: Baumbach
Ronny Kabus mit Stefan Rhein und Reiner Haseloff. Foto: Baumbach

Vor fast genau 70 Jahren fand die Wannsee-Konferenz statt, heute ist Holocaust-Gedenktag. Der Historiker Ronny Kabus hat diese Zeit gewählt, sein Buch über die Juden der Lutherstadt Wittenberg im III. Reich in dritter, neu bearbeiteter und erweiterter Auflage herauszubringen. Das Buch basiert auf der 1988 in der damaligen Lutherhalle erstmals vorgestellten und 2003 neu konzipierten Ausstellung. Nicht nur in Deutschland, auch in den USA und in Israel konnte man die Schau sehen. Ausstellung und Buch zeigen die Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von Wittenberger Juden mit Blick auf die Besonderheiten in der Lutherstadt und der NS-Lutherrezeption, wobei laut Kabus der Fokus auf den Missbrauch von Luthers antijüdischen Äußerungen gerichtet ist.

Inhaltlich wartet das Buch unter anderem mit neu recherchierten Erkenntnissen und Dokumenten zum Schicksal der Wittenberger Naziopfer sowie umfangreicheren Kommentaren zu den rund 300 Abbildungen auf. Demnächst will der Autor das Buch in Wittenberg präsentieren. Es ist erschienen bei BoD Norderstedt und kostet 14,90 Euro. ISBN: 978-3-8448-0249-8.

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